Vor dem Treffen in Brüssel:Was Sie über den EU-Gipfel wissen müssen

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Es ist der Gipfel, der den Euro retten soll - doch nicht einmal die Tagesordnung ist klar. Merkel und Sarkozy wollen Änderungen an den Verträgen debattieren, ihre Gegner lieber über mehr Feuerkraft und eine Banklizenz für den Rettungsfonds. Ein Überblick über die Themen des Gipfels, die politischen Fronten und mögliche Folgen eines Scheiterns.

Johannes Aumüller und Thorsten Denkler

Worum geht es inhaltlich bei dem Treffen?

Mal wieder um alles, um die Zukunft des Euro und des gesamten Kontinents. Aus Sicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist vor allem eines wichtig: die EU-Verträge so zu ändern, dass gegen Schuldensünder automatische Sanktionsverfahren eingeleitet werden können. Zudem wollen sie den dauerhaften Rettungsschirm ESM ein halbes Jahr früher installieren als bisher geplant. Doch andere Länder, vertreten beispielsweise durch den Luxemburger Jean-Claude Juncker, setzen andere Prioritäten: Sie würden auf dem Gipfel gerne klären, wie sich die Schlagkraft der Rettungsschirme verstärken und wie sich die Europäische Zentralbank (EZB) noch mehr zur Krisenbekämpfung einsetzen lässt. Beide Themen gefallen Merkel überhaupt nicht.

Warum treten Deutschland und Frankreich für automatische Sanktionen gegenüber Defizitsündern ein?

Schon die derzeit geltende Stabilitätsregel ist eindeutig. Die Staaten in der Europäischen Union dürfen ihre jährliche Neuverschuldung nicht über drei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP), also der gesamtwirtschaftlichen Jahresleistung, steigen lassen. Schon jetzt sehen die europäischen Verträge Strafen vor, wenn ein Land dagegen verstößt. Strafe heißt derzeit: Es fließt schlicht weniger Geld aus den EU-Töpfen in das Sünderland. Das können zum Teil empfindlich hohe Summen sein.

Das Problem: Die Strafen müssen im Einzelfall mehrheitlich vom Europäischen Rat verhängt werden. Darin sitzen die Regierungschefs der EU-Staaten, und die ärgern sich in dieser Frage ungern gegenseitig. Schließlich kann es beim nächsten Mal das eigene Land treffen. Die Folge: Trotz Dutzender Verstöße sind diese bisher nicht ein einziges Mal geahndet worden - auch nicht, wenn Deutschland die Kriterien verfehlte.

Daher sollen die Strafen nach dem Willen Merkels und Sarkozys künftig automatisch verhängt werden. Die Regierungschefs der Euro-Länder haben dann zwar ein Vetorecht, sie sollen mit Mehrheit eine Strafe aussetzen können. Die Hoffnung von Merkel und Sarkozy ist aber, dass sich ein Veto so politisch kaum durchsetzen lassen wird. Außerdem sollen Verfahren für den Schuldenabbau jener Mitgliedsstaaten der Eurozone festgelegt werden, die sich mit mehr als 60 Prozent ihres BIP verschulden.

Geht es nach Merkel und Sarkozy, werden die Euro-Staaten verpflichtet, eine "europäische Reformpartnerschaft" mit der Europäischen Kommission einzugehen. Heißt: Die Kommission soll Einfluss auf die nationale Politik nehmen können. Unklar ist, wie weit dieser Einfluss geht. Echte Durchgriffsrechte dürften sich schon aus verfassungsrechtlichen Gründen verbieten. Das Druckmittel dürfte ein Altbekanntes sein: weniger Geld aus EU-Töpfen.

Warum will Merkel die Schuldenbremse in allen Euro-Staaten einführen?

Dahinter steckt die Überzeugung, dass die gegenwärtige Krise vor allem eine Überschuldungskrise ist. Die Schuldenbremse würde die Euro-Staaten zwingen, in absehbarer Zeit nationale Haushalte aufzustellen, die ohne nennenswerte Neuverschuldung auskommen. Merkel und Sarkozy wollen, dass die Schuldenbremse in den Euro-Staaten mindestens Verfassungsrang bekommt, damit sie dauerhaft wirken kann.

Kritiker sehen darin allerdings ein erhebliches Problem. Der Staat könnte sich damit jeder Investitionsfähigkeit berauben. Altkanzler Helmut Schmidt verwies jüngst auf die Sparpolitik von Heinrich Brüning in der Weimarer Republik. Das Ergebnis: Brüning habe das Land praktisch kaputtgespart und damit nach Schmidt die ökonomische Grundlage für das Erstarken der Nationalsozialisten gelegt.

Was hat es mit dem Ziel einer Fiskalunion auf sich?

"Fiskalunion" klingt vielleicht nach mehr als es ist. Im Prinzip versteht Merkel darunter die oben beschriebenen Vertragsänderungen. Außerdem sollen die EU-Staaten künftig mehr miteinander reden. Alle sechs Monate soll es einen Gipfel der EU-Regierungschefs geben, auf dem allein wirtschafts- und fiskal-, also geldpolitische Themen besprochen werden. Ziel ist es, die jeweilige Politik der EU-Länder stärker auf gemeinsame Ziele zu fokussieren. Solange die Krise noch nicht ausgestanden ist, soll es solche Treffen sogar monatlich geben.

Wie verlaufen die Fronten auf dem Gipfel?

Der Vorschlag ist schon deswegen umstritten, weil er explizit in Kauf nimmt, dass ihn nur die 17 Euro-Staaten annehmen. Den restlichen zehn EU-Staaten wird lediglich angeboten, mitzumachen - als notwendig wird das von Seiten der deutschen und der französischen Regierung nicht erachtet. Das Nicht-Euro-Land Großbritannien gilt dabei als schärfster Gegner. Die Briten wollen ihren Einfluss auf die EU nicht verlieren. Außerdem befürchten sie, dass die EU mit Beschlüssen zur Finanzmarktregulierung den Finanzplatz London gefährdet, an dem im Moment wieder große Gewinne erwirtschaftet werden.

Doch auch innerhalb der Euro-Gruppe gibt es Spannungen. Als schwierig könnte sich der Plan herausstellen, den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM ein halbes Jahr früher als vorgesehen aufzuspannen. Weil die Schutzwälle schon jetzt wieder zu niedrig erscheinen, wollen manche Euro-Länder den provisorischen Schirm EFSF und den ESM parallel laufen zu lassen - damit würde sich die Schutzwirkung quasi verdoppeln, aber eben auch das Risiko. Merkel ist strikt dagegen.

Zugleich wehrt sich Merkel gegen Versuche, den ESM zu einer Art Bank auszubauen, die sich am Kapitalmarkt und bei der Europäischen Zentralbank unbegrenzt mit Geld versorgen kann. Der Chef der Euro-Gruppe, Jean Claude Juncker, fordert genau das in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Merkel will das verhindern, um die Risiken in einem zwar jetzt schon gewaltigen, aber aus ihrer Sicht noch überschaubaren Rahmen zu halten.

Welche Rolle spielen die Ratingagenturen?

Es ist auffällig, wie sich in den Tagen vor dem Gipfel die Drohungen der Ratingagenturen häuften: Erst zweifelte Standard & Poor's am AAA-Rating von Deutschland und allen anderen wirtschaftlich solide erscheinenden Euro-Staaten. Daraus folgte fast schon logischerweise die Warnung, dass der Rettungsfonds EFSF seine Bestnote verlieren könnte. Und zuletzt drohte die Agentur auch noch mehreren Banken eine Herabstufung an - darunter auch der Deutschen Bank und der Commerzbank.

Diese enge Taktung ist natürlich kein Zufall. Die Ratingagenturen wollen die europäischen Staaten unter Druck setzen, damit es auf dem Gipfel auf jeden Fall zu einem Ergebnis in ihrem Sinne kommt. Um die von Merkel und Sarkozy angestrebten Vertragsänderungen geht es ihnen nur am Rande. Entscheidender ist für sie, mit welchen anderen Instrumenten Europa die Krise bekämpfen möchte.

Standard & Poor's spricht dabei für zwei Interessengruppen: einerseits für einen Teil der Kapitalanleger, andererseits aber auch für den politischen Akteur USA. Beide Gruppen haben eines gemeinsam: Sie wollen, dass Europa zur Überwindung der Schuldenkrise nicht auf das Merkel'sche Modell des stetigen Sparens setzt, sondern auf die Notenpresse der Europäischen Zentralbank. Egal, was das kostet, egal, wie hoch danach die Inflation ausfällt. Die Kapitalanleger wären über eine solche Lösung froh, weil ihre Investments sicherer wären; die USA wären froh, weil sie glauben, dass sich mit billigem Geld Wachstum generieren lässt.

Was passiert, wenn der Gipfel scheitert?

Was bedeutet scheitern? Mit irgendeinem Resultat werden sich Merkel, Sarkozy & Co. schon vor die Kameras stellen - wobei die Frage ist, wer sich unter der Formulierung "& Co." angesprochen fühlen wird.

In Brüssel gibt es gerade ungefähr so viele Gerüchte wie Gipfel-Teilnehmer. Diese beginnen bei der noch relativ wahrscheinlich erscheinenden Prognose, dass am Ende nur die 17 Länder der Euro-Zone die Vertragsänderungen unterzeichnen. Und sie enden bei dem unwahrscheinlichen Szenario, dass der EU-Gipfel ergebnislos endet und sich übers Wochenende ein schwacher Euro-Staat nach dem anderen aus der Gemeinschaftswährung verabschiedet, bis am kommenden Montag nur noch ein Elite-Euro mit den wirtschaftlich starken Ländern existiert.

Nur eines steht fest: Sollten die Staats- und Regierungschefs wirklich ohne substanzielles Ergebnis auseinander gehen, sind - entsprechend der Merkel'schen Diktion "Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa" - die Folgen für den Kontinent und die Währungsgemeinschaft unabsehbar. Daher sind alle Gedanken Spekulation, doch sie lohnen sich, weil die Folgen so gravierend sein könnten. Viele Beispiele wären möglich, hier exemplarisch nur drei:

[] Sollten am Ende alle 27 Staats- und Regierungschefs dem deutschen Wunsch folgen und die angestrebte Vertragsänderung unterzeichnen, sich zugleich aber nicht zum neuen dauerhaften Rettungsfonds ESM äußern, dürften die Märkte weiterhin beunruhigt sein. Denn obwohl der ESM schon längst beschlossen worden ist, weiß noch niemand, wie er konkret aussehen und wie er sich finanzieren soll. Bisher war angedacht, die restlichen Gelder des temporären Schutzschirmes EFSF in das neue Konstrukt zu transferieren. Doch der EFSF ist schon fast aufgebraucht. Ohne zusätzliche Zahlungen der Mitgliedsstaaten ist der ESM gerade ein ziemlich leerer Schirm - und sind Europas Schuldenstaaten weiterhin im Visier der Finanzmärkte.

[] Sollten tatsächlich nur die 17 Euro-Staaten die Vertragsänderungen unterzeichnen, würde das die Spaltung des Kontinentes forcieren. Von einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" ist oft die Rede; in Zukunft müsste vielleicht "Europa der vier Geschwindigkeiten" heißen, aufgesplittet in vier Gruppen, nämlich in wirtschaftliche starke Euro-Länder wie Deutschland, wirtschaftliche starke Nicht-Euro-Länder wie Großbritannien, wirtschaftlich schwache Euro-Länder wie Griechenland und wirtschaftliche schwache Nicht-Euro-Länder wie Bulgarien.

Auch wäre die Idee vom gemeinsamen Groß- und Friedensprojekt Europa massiv beschädigt. Daraus könnten sich verstärkt nationalere Haltungen der Politiker ergeben sowie neue Debatten, die mit den konkreten wirtschaftlichen Folgen erst einmal gar nichts zu tun haben - wie zum Beispiel der jüngste dänische Versuch, wieder permanente Zollkontrollen einzuführen. Und die Briten müssten sich ernsthaft fragen, ob sie noch als Vollmitglied der Europäischen Union wahrgenommen werden können.

[] Sollten sich tatsächlich nicht einmal alle 17 Euro-Staaten einigen können und es am Ende sogar zum Ende der Gemeinschaftswährung kommen, stünde Deutschlands Wirtschaft wahrscheinlich vor massiven Problemen. Dabei wäre es egal, ob es zu einer Art Elite-Euro mit wirtschaftlich starken Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Österreich käme oder sogar zu der von manchen herbeigesehnten Rückkehr zur D-Mark.

Denn eines ist sicher: Die neue Währung wäre sicherlich deutlich stärker als der bisherige Euro, Exporte würden sich erstens deutlich verteuern und zweitens deutlich erschweren, weil viele Menschen in anderen europäischen Ländern überhaupt nicht mehr in der Lage wären, deutsche Produkte zu kaufen. Von einem "Teilkollaps der deutschen Exportindustrie", warnt BMW-Chef Norbert Reithofer. Deutsche Unternehmen müssten also einen Plan B entwickeln, wie sie ihren Umsatz und ihren Gewinn halten wollen - und wenn dieser Zustand erst einmal eingetreten ist, scheint von Lohnkürzungen bis zu Produktionsverlagerung nach Asien nichts mehr ausgeschlossen.

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