Johannes Vogel, 38, ist Sozialpolitiker der FDP-Fraktion im Bundestag und Generalsekretär der Partei in NRW. Muss man ihn kennen? Für einen Liberalen verlief sein Lebensweg auffallend untypisch: Im Alter von 15 zog es ihn zu den Grünen, nach der Schule wurde er Zivi, um als Rettungssanitäter Menschen zu helfen. 2014 heuerte er bei der Bundesagentur für Arbeit an, wo er als Geschäftsführer die Arbeitsagentur Wuppertal-Solingen leitete. Vogel gilt als ambitionierter Sozialliberaler. Und als einer, der zuweilen hadert mit dem Kurs seines wenig populären Parteichefs Christian Lindner; der war zwar auch mal Zivi - aber als Hausmeister in der FDP-nahen Theodor-Heuss-Akademie.
Kürzlich stellte Vogel Angela Merkel auf die Probe - bei der viel beachteten Regierungsbefragung mit der Kanzlerin, Mitte Mai. Da überfiel der Liberale die CDU-Regierungschefin mit einer Frage zu den Untiefen der Rentenpolitik, die durch die Corona-Krise plötzlich hochaktuell geworden ist - weil sie für heftigen Streit zwischen Jung und Alt, zwischen Beitragszahlern und Rentnern sorgen könnte. Merkel zeigte aus dem Stegreif erstaunliche Detailkenntnis, wie im Protokoll des Bundestags nachzulesen ist. Doch die Kanzlerin mochte die Frage nicht gleich beantworten.
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Jetzt bekam der Liberale - "Sehr geehrter Herr Kollege, lieber Herr Vogel" - Post aus der Regierungszentrale, handschriftlich unterzeichnet von Angela Merkel. Zufrieden ist er aber keineswegs. Vogels harsches Urteil lautet: "Die Bundesregierung will ihren eigenen Scherbenhaufen nicht etwa aufkehren, sondern der nächsten Bundesregierung vor die Füße kippen." Was ist da los?
Es geht um die gerechte Lastenverteilung zwischen Rentnern und Beitragszahlern. Durch die Corona-Krise droht eine empfindliche Unwucht: Wenn als Folge der historischen Rezession in Deutschland die Löhne kräftig sinken, dürfte das Rentenniveau bald kräftig steigen. Dabei gilt doch der eherne Grundsatz: Die Anpassung der Renten folgt - mit einjähriger Verzögerung - der Entwicklung der Löhne. Genau darum bekommen Millionen Rentner zum 1. Juli deutlich mehr: plus 3,45 Prozent im Westen und plus 4,2 Prozent im Osten.
Das findet Vogel "gut und richtig, da auch die Löhne im vergangenen Jahr gestiegen" seien. Alle Generationen, so der Liberale, müssten sich auf diesen "Gleichklang" langfristig "verlassen können". Doch als "unfair" und Verletzung der Generationengerechtigkeit kritisiert Vogel, wie SPD-Sozialminister Hubertus Heil 2018 am Rentensystem herumschraubte.
Heil führte damals - den Willen von Union und SPD ausführend - die "doppelte Haltelinie" in der Rentenversicherung ein: Bis 2025 soll der Beitragssatz 20 Prozent nicht überschreiten, das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken. Ganz nebenbei aber schaffte Heil auch den "Nachholfaktor" ab. Den hatte sein SPD-Amtsvorgänger Olaf Scholz, heute Finanzminister, 2008 in der Finanzkrise eingeführt - als Korrektiv für die "Rentengarantie". Klingt schrecklich kompliziert? Ist aber eigentlich simpel: Mit der Rentengarantie stellte Scholz damals sicher, dass angesichts sinkender Löhne die Ruhestandsbezüge nicht gekürzt werden können. Zum Ausgleich führte er den Nachholfaktor ein. Der sollte für Generationengerechtigkeit sorgen: Sobald sich die Wirtschaft erholt und die Löhne wieder steigen, sollten die dann möglichen Rentenerhöhungen nur halb so hoch ausfallen wie nach der Rentenanpassungsformel eigentlich vorgesehen - bis die vermiedene Rentenkürzung ausgeglichen ist.
Wieso setzte Heil den Mechanismus bis 2025 außer Kraft? Er wollte die bis 2025 geltenden Haltelinien nicht gefährden. Die Öffentlichkeit erfuhr davon jedoch lange nichts. Erst kürzlich kritisierten die Rentenexperten Axel Börsch-Supan und Bert Rürup den SPD-Minister für seinen Eingriff. Dessen Folgen waren aber offenkundig auch Angela Merkel nicht ganz klar.
Die Kanzlerin hatte Vogel in der Regierungsbefragung noch erwidert: "Wenn es so wäre, dass der Nachholfaktor bis 2025 ausgesetzt ist, würden wir darüber noch mal reden." Jetzt aber, so ist ihrer schriftlichen Antwort zu entnehmen, hat sie wenig Lust auf Rentenstreit: "Der von ihnen beschriebene Effekt, dass die Renten stärker als die Löhne steigen könnten", komme "frühestens bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2022 zum Tragen", so Merkel. Derzeit bedürfe es also "keiner Änderung der Rentenanpassung".
Am 1. Juli 2022 ist, wenn kein Wunder geschieht, Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin, spätestens im Herbst 2021 gibt es Bundestagswahlen. Für Vogel steht fest: Die Kanzlerin habe den "Fehler offensichtlich erkannt", wolle ihn aber nicht mehr selber korrigieren.