Es kommt nicht oft vor, dass Boris Johnson und David Cameron einer Meinung sind. Die beiden früheren Premierminister sind seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in Eton nicht wirklich gut aufeinander zu sprechen, ihr Konkurrenzkampf ist so legendär, dass es Bücher darüber gibt. Besonders heftig ging es in der Zeit um das Brexit-Referendum zu, als Johnson sich kurz vor der Abstimmung gegen Cameron stellte, in der Hoffnung, selbst einmal Premier zu werden. Es ist deshalb schon bemerkenswert, dass sich die beiden Streithähne nach Jahrzehnten gegenseitiger Abneigung plötzlich mal einig sind. Und schuld daran ist ausgerechnet ein weiterer Tory: Rishi Sunak.
Der Premierminister hat mit seiner Entscheidung, den Ausbau der Schnellzugstrecke von London nach Manchester zu stoppen, einen wahren Sturm der Entrüstung ausgelöst. High Speed 2 (HS2) galt als eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte Großbritanniens, es sollte den wirtschaftlich schwachen Norden mit der Hauptstadt verbinden. Doch daraus wird nun nichts, wie Sunak beim Jahrestreffen seiner Konservativen Partei am Mittwoch in Manchester verkündete. Anders als geplant, sollen die Hochgeschwindigkeitszüge lediglich zwischen London und Birmingham auf neuen Trassen unterwegs sein - und damit auf einer Strecke, die bereits ganz gut ausgebaut ist.
Cameron, von 2010 bis 2016 Premierminister, bezeichnete Sunaks Entscheidung als grundfalsch. HS2 seit dazu gedacht gewesen, das Land zu einen, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X. Sunak werfe mit dem Baustopp einen parteiübergreifenden Konsens weg, der 15 Jahre lang gehalten habe. Vom Labour-Premier Gordon Brown bis zur Tory-Premier Liz Truss herrschte Einigkeit, dass HS2 gebaut werden muss. Cameron nannte diese Einigkeit "historisch" und fügte hinzu: "In den kommenden Jahren werden viele zurückschauen (...) und sich fragen, wie diese einmalige Gelegenheit verloren gehen konnte." Am späten Mittwochabend teilte sogar Boris Johnson Camerons Nachricht und kommentierte sie mit "Ich stimme zu". Der Guardian titelte am Donnerstag: "Sunak entfesselt einen Tory-Bürgerkrieg".
Nicht nur in der Konservativen Partei ist die Verärgerung groß. Auch aus der britischen Wirtschaft kommt massive Kritik. Die Chefin des Industrieverbands CBI, Rain Newton-Smith, bezeichnete Sunaks Entscheidung als "schädliches Signal" für den Standort Großbritannien: "Wenn Unternehmenschefs weltweit Investitionsmöglichkeiten abwägen, galt Großbritannien wegen unseres Rufs für Zuverlässigkeit immer als sicherer Hafen." Doch diese Zuverlässigkeit scheint nun zweifelhaft. Der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes TUC, Paul Nowak, sagte, Sunak habe "weder einen Plan noch eine Vision", um das Land voranzubringen.
Die Kosten seien außer Kontrolle geraten
Der Premier hatte den Baustopp von HS2 vor allem mit den hohen Kosten begründet. Diese seien außer Kontrolle geraten, ebenso wie der Zeitplan. Ursprünglich war die Eröffnung von HS2 für 2026 geplant gewesen, aber das galt zuletzt als vollkommen unrealistisch. Die geschätzten Kosten waren bereits 2019 von 33 Milliarden Pfund auf 71 Milliarden Pfund (etwa 82 Milliarden Euro) gestiegen, wobei in der Summe noch nicht alle Planabschnitte enthalten waren. Sunak versprach nun, "jeden einzelnen Penny", der mit dem Baustopp eingespart wird, in Hunderte von kleineren Projekten zu investieren. Er kündigte den Ausbau von Straßen, Buslinien und Regionalzügen an. 36 Milliarden Pfund (etwa 41,5 Milliarden Euro) sollen dafür verwendet werden.
Für Sunak selbst bedeutet der Baustopp von HS2 eine gewaltige Kehrtwende. Noch im Sommer 2022 hatte er sich für das Projekt ausgesprochen, damals kämpfte er gegen Liz Truss um das Amt des Tory-Parteichefs. Er sprach sogar davon, die Schnellzugstrecke nicht nur von Birmingham nach Manchester auszubauen, sondern auch von Birmingham nach Leeds. Nun ist Sunak offenbar der Meinung, dass all das nicht mehr möglich ist. "Die Fakten haben sich geändert", sagte der Premier bei seiner Rede in Manchester. Damit meinte er nicht nur die Baukosten, sondern nannte auch das veränderte Verhalten von Geschäftsreisenden nach Corona. Seiner Meinung nach wollen offenbar nicht mehr so viele mit dem Zug fahren wie vor der Pandemie. Wie er darauf kommt, sagte Sunak allerdings nicht.
Am Tag nach seiner Rede sind es nicht nur Aussagen wie diese, die für Kritik sorgen. Sondern vor allem die Tatsache, dass Sunak noch am Dienstag, also einen Tag vor seiner Rede, so tat, als sei keine Entscheidung zu HS2 gefallen. Das kann allerdings nicht der Wahrheit entsprechen, denn kurz nach Sunaks Rede verbreitete sein Social-Media-Team Videos, die den Premier dabei zeigen, wie er den Baustopp von HS2 verkündet. Die Videos wurden erkennbar in Downing Street aufgenommen, also bevor Sunak am Wochenende zur Tory Party Conference nach Manchester gereist ist.
In den Videos preist Sunak nun das, was er "Network North" nennt. Wann die neuen Bus- und Bahnlinien allerdings fertig sein sollen, dazu gab es keine Auskunft. Dem Vernehmen nach soll es so schnell wie möglich vorangehen, finden im kommenden Jahr doch Unterhauswahlen statt. Derzeit liegen Sunaks Tories je nach Umfrage 15 bis 20 Prozent hinter der Labour Party. Ob ihm das neue "Network North" dabei hilft, diesen Abstand zu verringern, wird sich zeigen. Es sieht jedenfalls so aus, als habe Sunak den Norden nicht ganz so gut im Blick. So kündigte die Regierung am Mittwoch an, die sogenannte Metrolink-Strecke in Manchester bis zum Flughafen zu verlängern. Die Sache ist nur: Die Strecke gibt es bereits, sie wurde 2014 eröffnet. Erst als die Häme in den sozialen Netzwerken immer größer wurde, stellte das Verkehrsministerium klar, dass es sich um die Verlängerung zum Flughafen-Terminal 2 handele - und nicht um die bereits existierende Strecke zum Terminal 1.