Hohe Haushaltsüberschüsse:Berauschende Zahlen

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Grund für laute Jubelschreie: Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für Deutschland Milliarden-Haushaltsüberschüsse. Der Politik kommt das höchst gelegen, lassen sich doch so Wahlversprechen finanzieren, ohne die Steuern zu erhöhen. Doch die Experten warnen, das Geld lieber "sinnvoll" zu nutzen.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Es ist nicht überliefert, was genau sich an diesem Donnerstagvormittag entlang des Landwehrkanals in Berlin-Mitte zugetragen hat. Wer jedoch gegen elf Uhr zwischen Wilhelm- und Klingelhöferstraße unterwegs war, wird womöglich aus östlicher wie westlicher Richtung zeitgleich spitze Schreie vernommen haben.

Es war der Moment, in dem die Chefökonomen der großen Wirtschaftsforschungsinstitute in der Bundespressekonferenz ihr gemeinsames Herbstgutachten vorstellten - mit einer Kernaussage, wie sie sich Politiker zu Beginn von Koalitionsverhandlungen kaum schöner vorstellen könnten: Statt Bund und Länder wie in früheren Jahren zum Sparen anzuhalten, sagen die Experten für die kommende Wahlperiode gigantische Haushaltsüberschüsse voraus.

Vor allem die Strategen im Konrad-Adenauer-Haus an der Klingelhöferstraße dürfte der Blick ins gelobte Land geradezu berauscht haben. Die Zahlen zeigen nämlich, dass die CDU-Führung zumindest einigen Ausgabenwünschen aus den eigenen Reihen wie aus denen des mutmaßlichen Koalitionspartners SPD wird nachkommen können, ohne entgegen aller Versprechen die Steuern erhöhen zu müssen. Aber auch für die Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus an der Wilhelmstraße gestalten sich die Dinge nun einfacher: Angesichts der zu erwartenden Geldschwemme werden sie der eigenen Parteibasis den Verzicht auf eben solche Steuererhöhungen leichter schmackhaft machen können.

Schon im kommenden Jahr ein Milliarden-Überschuss

Nach den Planungen der noch amtierenden schwarz-gelben Regierung muss der Bund 2014 noch einmal gut sechs Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen, ab 2015 will er dann erstmals seit 1969 wieder mehr Geld einnehmen als ausgeben. Nimmt man Bund, Länder und Gemeinden zusammen, ergibt sich sogar schon im kommenden Jahr ein Etatüberschuss von rund acht Milliarden Euro. Nach der Prognose der Institute wird dieser Überschuss in der Folge weiter kräftig wachsen: auf etwa 17 Milliarden Euro 2015, mehr als 27 Milliarden Euro 2016, gut 38 Milliarden Euro 2017 und fast 50 Milliarden Euro 2018.

Selbst wenn die neue Koalition - wie von den Instituten gefordert - denjenigen Teil der Überschüsse, der rein konjunkturell bedingt und damit nicht nachhaltig ist, zur Schuldentilgung einsetzt, bleiben noch riesige Summen übrig: von elf Milliarden Euro 2014 über 16 Milliarden, 21 Milliarden und 27 Milliarden bis 33 Milliarden Euro im Jahr 2018. Grund ist vor allem die anhaltend gute Arbeitsmarktentwicklung.

Die Ökonomen plädieren dafür, das Geld "sinnvoll" zu nutzen - sogar der Titel ihres Gutachtens lautet so. Im Blick haben sie dabei vor allem Straßen, Brücken, Schienen- und Schifffahrtswege sowie Bildung und Forschung. Gleichzeitig warnen sie davor, die Milliarden "nach dem Gießkannenprinzip oder nach Länderproporz" auszuschütten, wie der Konjunkturchef des Ifo-Instituts, Kai Carstensen, sagte. Die Sorge ist berechtigt, denn vor allem die Bundesländer werden darauf dringen, "ihren" Teil des Kuchens abzubekommen.

Carstensen forderte zudem, gerade in der Bildung nicht nur auf Quantität, sondern vor allem auf Qualität zu setzen. Es sei wenig sinnvoll, einfach zusätzliches Geld "in ein nicht funktionierendes System" zu stecken, erklärte er. Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung plädierte zudem dafür, die sogenannte "kalte Progression", also die heutigen Steuererhöhungen bei gleichbleibendem Realeinkommen, zu beseitigen.

Streitfrage Mindestlohn

Ob die Politik den Empfehlungen der Experten folgen wird, ist aber zweifelhaft: Zwar wollen CDU, CSU und SPD tatsächlich mehr in die Infrastruktur und die Bildung investieren. Darüber hinaus planen sie aber auch zusätzliche Sozialausgaben, etwa höhere Renten für Mütter. Und noch einen Rat der Volkswirte werden die künftigen Koalitionäre wohl schlichtweg ignorieren: denjenigen nämlich, auf einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zu verzichten.

Aus Sicht der Ökonomen würde eine solche gesetzliche Lohnuntergrenze "zu einem beträchtlichen Stellenabbau" führen, vor allem in Ostdeutschland. Rückendeckung erhielten sie dafür vom Wirtschaftsflügel der Union und vom Bundesverband der Deutschen Industrie. Was unter einem "beträchtlichen" Stellenabbau zu verstehen ist, konnten die Experten allerdings auf Nachfrage nicht sagen.

Ohnehin teilen nicht alle Ökonomen die Ansicht der vier Institute: Die Industrieländer-Organisation OECD etwa schlug sich am Donnerstag auf die Seite der SPD und erklärte, ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei "ganz vernünftig". "Viele andere Länder, darunter Frankreich und Großbritannien, haben höhere Mindestlöhne im Verhältnis zum Durchschnittslohn eines Vollzeitbeschäftigten", sagte der OECD-Ökonom Mark Keese der Nachrichtenagentur Reuters.

© SZ vom 18.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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