Fußball in Katar:Wo Gastarbeiter die WM schauen

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Volle Tribünen, voller Rasen: Die Arbeiter beim Fußballschauen im Cricket-Stadion. (Foto: Ina Fassbender/AFP)

In Katar gibt es ein neuntes Stadion, in das Fans strömen: In einer Cricket-Anlage jubeln Wanderarbeiter Messi & Co zu. Offene Vorwürfe an den Ausrichter formulieren die wenigsten. Dafür zeigen sie Begeisterung für den Sport - solange das Spiel läuft.

Von Sebastian Fischer, Doha

Am Abend, an dem Argentinien ins Finale der Weltmeisterschaft einzieht, sind in Katar zwei Stadien voll. In Lusail, nördlich von Doha, wo für dieses Turnier nicht nur eine Arena mit goldglänzender Fassade hingebaut wurde, sondern gleich eine ganze Planstadt, dribbelt Lionel Messi leibhaftig der kroatischen Abwehr davon. 30 Kilometer südlich sitzen Männer auf Tribünen in verblichenen Schalensitzen oder auf einem längst nicht mehr grünen Rasen, um Messi auf einer haushohen Leinwand dabei zuzusehen. Und es gehört zu den schwer greifbaren Geschichten dieser WM, dass kaum zu bemessen ist, wo die Freude größer ist.

Im Cricket-Stadion in Asian Town schauen die Migrant Workers die Spiele, die Männer, vor allem aus Indien und Pakistan, Bangladesch und Nepal, über die vor der Weltmeisterschaft so viel berichtet wurde, weil sie das Turnier erst möglich gemacht haben mit ihrer Arbeitskraft beim Bau von Hotels, Straßen oder Stadien. Weil viele dabei ausgebeutet wurden, einige in unwürdigen Bedingungen lebten und manche in der Hitze der Wüste starben.

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Im Cricket-Stadion in Asian Town haben die Veranstalter den Arbeitern eine eigene Fan-Zone hingestellt. Ganz in der Nähe ihrer Unterkünfte, in der aus den Dokumentationen vor dem Turnier für so manche verwahrloste Bleibe bekannten Industrial Area, weit weg von allem anderen, was bei dieser WM so los ist. "Vielen Dank für Ihren Beitrag zur besten Fifa-Weltmeisterschaft aller Zeiten" steht auf einem großen Plakat mit einem in die katarische Fahne eingewickelten WM-Pokal.

Am Dienstagabend, zum Halbfinale Argentinien gegen Kroatien, sind angeblich so viele da wie noch nie. 40 000 heißt es tags darauf von den Sicherheitskräften, was grob den Schätzungen der zwei Studenten am Info-Desk entspricht, die seit dem Eröffnungsspiel hier jobben. Bei den Spielen der Brasilianer und der Argentinier sei am meisten los gewesen, erzählen sie.

Während die Argentinier dreimal treffen, erlebt man einen Jubel, der ehrlich wirkt

Dass Menschen aus Südasien sich für Messi begeistern, daran mussten sich viele Beobachter aus der Ferne erst gewöhnen, als die ersten Bilder von feiernden Indern in himmelblauweißen Trikots im Internet herumgereicht wurden. Von Fake-Fans war die Rede, was nicht ganz unbegründet war. Schließlich hat Katar nachweislich Menschen ihre Anreise bezahlt, um positive Stimmung zu verbreiten, und offenbar zahlreiche Arbeiter kurz vor dem Turnier ausgewiesen.

Wenn man dann aber dort ist, während die Argentinier dreimal treffen, erlebt man einen Jubel, der besonders ehrlich daherkommt: Ein paar Schritte Anlauf und ein Sprung, die Hände wie ein Bodenturner in die Luft gestreckt, so haben früher auch mal Fußballer gejubelt. Ganz ähnlich jubeln die Männer hier. Sie schreien, sie juchzen. Einmal laut, wenn die Tore fallen. Und noch einmal etwas leiser, wenn die Tore in Zeitlupe wiederholt werden. Als wollten sie alles an diesem Moment auskosten.

Die Arbeiter sitzen auf dem Rasen oder den Tribünen und bejubeln die Fußballer, die nicht weit entfernt in einem anderen Stadion kicken. (Foto: Orre Pontus/TT/Imago)

Schon Stunden vor dem Anstoß gehen sie über den ausladenden Parkplatz beim Grand Mall Hypermarket, durch die Absperrgitter, der Musik folgend, die so laut aus den Boxen kracht, dass man Ohrenschützer bräuchte. Das ist ganz ähnlich wie in den acht WM-Stadien, von denen die ersten jetzt schon ungenutzt herumstehen. Anders ist, dass es das Cricket-Stadion mit seinen hohen Flutlichtmasten und kleinen Tribünen, die mit etwas Fantasie nach Regionalliga West aussehen, schon seit 2013 gibt. Laut "ESPN Cricinfo" war es zuletzt die Heimspielstätte der afghanischen Cricket-Nationalmannschaft.

Anders ist auch, dass es in der Arbeiter-Fan-Zone auf dem Stadionvorplatz das Essen zu tendenziell etwas arbeiterfreundlicheren Preisen gibt. Und dort finden sich auf die Zielgruppe ausgerichtete Stände. Sie heißen "Pakistani, Bangladesh, Filipino, Arabic, South Indian, Hyderabadi, Nepali, Chaat, Chinese, Mandi, North Indian" - und "Café".

An den Ständen ist aber trotzdem kaum etwas los. Umso mehr stehen dafür in einer Schlange beim Fußballdarts, wo sie mit einem Plüschball auf eine große Klettscheibe schießen können. Viele sind auch schon drinnen, im Stadion, wo ein kleines Fußballfeld mit Banden und Toren begrenzt ist. Und wo eine ausgesprochen gut gelaunte Frau durchs Programm führt. Die Moderatorin, eine Sängerin und ein paar Tänzerinnen werden bis auf wenige Ausnahmen die einzigen Frauen bleiben, die man den ganzen Abend lang sieht. Vielleicht tendieren ihre Beliebtheitswerte im Publikum auch deshalb in Richtung des Hauptdarstellers des Abends, im nahen, fernen Lusail-Stadion.

Messi, Messi und Messi, so lauten die häufigsten Antworten auf die Frage, warum hier fast alle für Argentinien sind, warum sie Argentinien-Perücken aufhaben, Argentinien-Fahnen schwenken und gefälschte Argentinien-Trikots tragen. Viele wollen gerne über Germany sprechen, was war da los in der Gruppenphase? Ein paar junge Bangladescher, Kollegen bei einer Autowerkstatt, erzählen, dass sie auch schon mal im Stadion waren, beim Gruppenspiel gegen Mexiko. Andere, im Straßenbau beschäftigt, sagen, dass ein Stadionbesuch, einmal Messi live zu sehen, ihr Lebenstraum wäre. Sie haben keine Tickets bekommen.

Lionel Messi wird von den Arbeitern ausgelassen bejubelt, wie hier bei seinem ersten Turniertor. (Foto: Ariel Schalit/AP)

Die Situation der Arbeiter ist nicht ausgeblendet worden, sobald der Ball rollte, wie das manche (natürlich immer unter Verwendung dieser gut abgehangenen Floskel) vorher befürchtet hatten. Viele Journalisten sind ins Cricket-Stadion gekommen und haben die Geschichten der Männer erzählt, die in Katar sind, weil es zu Hause oder woanders für sie noch weniger Chancen und schwierigere Bedingungen gibt. Die deshalb oft jahrelang ihre Familien kaum sehen und ihren Lohn nach Hause schicken. Darüber, dass sie sich beschweren, war eher wenig zu lesen.

Wenige Minuten nach dem Spiel ist der Rasen leer

Katar? "Good country", sagt zum Beispiel Nurajam, 26, auch er kommt aus Bangladesch. Die Arbeit sei hart, erzählt er, er ist mit seinem Kollegen da. Fliesen legen, zimmern, von morgens bis abends, so beschreiben sie, was sie tun. Und sie beschreiben es mit einer großen Selbstverständlichkeit. Seit acht Jahren sei er hier, sein Onkel habe ihm das Visum organisiert. Eine andere Option hat er in seinem Leben als Erwachsener wohl nie in Erwägung gezogen.

Von etwa einem Dutzend Männern, mit denen man im Laufe des Abends mal kürzer und mal länger ins Gespräch kommt, gibt es nur einen, der sich beschweren will. Martin will er genannt werden, er kommt aus Kenia, er hat kein Messi-Trikot an. Er habe für den Sicherheitsdienst der Metro gearbeitet, erzählt von verspäteten Lohnzahlungen, einer kleinen Unterkunft mit sechs Leuten und Schwierigkeiten, den Arbeitsplatz zu wechseln. Dann sei er zunächst wieder zurück nach Kenia geflogen, zu Frau und Tochter, die er mit seinem Geld ernähre. Nun sei er mit einem Dreimonatsvertrag zur WM wieder da, inzwischen sei vieles besser. Auch um einen guten Eindruck zu machen, glaube er: "Sie versuchen es zu faken."

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Seine Vorwürfe und Schilderungen lassen sich schwer überprüfen, aber sie passen zu jenen von Menschenrechtsorganisationen, wonach es je nach Arbeitgeber noch an der Umsetzung notwendiger Reformen hake und man besonders in der Zeit nach der WM auf Katar schauen müsse. Doch selbst Martin sagt, dass er dann unbedingt wiederkommen will, um zu arbeiten.

Die Arbeit, sie ist für die Männer während des Spiels nur ganz kurz nicht das Erste, woran sie denken. Schon vor dem Schlusspfiff verlassen viele das Cricket-Stadion. Wenige Minuten danach ist der Rasen leer. Wer noch ein Selfie machen will, die WM-Leuchtschrift im Hintergrund, der muss sich beeilen. "Finished, finished", rufen die Ordner. Dann ist der Spaß vorbei.

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