Es war ein feuchter Abend in der Steiermark, und das lag nicht nur am traditionell durstigen Publikum. In Schladming lief soeben der zweite Durchgang des Nachtslaloms, und über die Skibrillen der Rennfahrer liefen Tropfen. Im Regen Ski zu fahren, das fühlt sich für die meisten Menschen ähnlich prickelnd an wie eine abgestandene Flasche Schaumwein, aber der Slalomprofi Linus Straßer ist nicht so wie die meisten Menschen. Kurz bevor er sich an diesem Abend von Schladming zum zweiten Mal in den Hang stürzte, erklärte er seine Wahrnehmung in Wetterfragen. "Das waren früher auch schon beim Fußball immer meine besten Spiele, wenn es so richtig dreckig zur Sache ging", sagte der Mann vom TSV 1860 München. "Von daher: mag ich."
Beim Deutschen Skiverband dürfen sie froh sein, dass Linus Straßer sich für den Slalomsport entschieden hat. Kurz nach seinen meteorologischen Ausführungen kurvte der 31-Jährige unter dem Flutlicht von Schladming durch die Kippstangen auf der Planai-Piste - und gewann sein zweites Rennen innerhalb von vier Tagen. "Es ist total simpel gerade für mich", sagte er danach am Mikrofon des Bayerischen Rundfunks. "Ich stehe echt gut über dem Ski, ich habe ein total gutes Gespür für meine Position." Er wirkte da noch ganz bei sich und seiner Disziplin, betätigte sich nüchtern in der sportlichen Analyse. Als hätte er noch nicht recht realisiert, was ihm da gerade gelungen war.
Ski alpin:Der Held von Kitzbühel hat noch eine Rechnung offen
Der deutsche Slalom-Spezialist Linus Straßer ist derzeit in bestechender Form. Beste Voraussetzungen also, damit ihm nun in Schladming nicht der fatale Fehler des Vorjahres unterläuft.
Nach dem Erfolg unweit seiner Wahlheimat in Kitzbühel am Sonntag ist Straßer nun etwas geglückt, was vor ihm noch kein anderer deutscher Skifahrer geschafft hat: die Slaloms von Kitzbühel und Schladming in einer Saison zu gewinnen. "Das Momentum koste ich gerade aus", sagte Straßer noch, während das Schladminger Publikum im Hintergrund die nächtliche Party einläutete. Ein Münchner Löwe gewinnt das Double, ja bist' narrisch!
Das Rennen am Mittwochabend hatte einen gewaltigen Spannungsbogen zu bieten - und zwar mit Beginn des ersten Laufs. Straßer hatte ja eine offene Rechnung mit diesem Hang zu begleichen. 2022 hatte er hier gewonnen, aber auf den Tag genau vor einem Jahr war er im ersten Durchgang von Schladming am zweiten Tor durch einen Einfädler ausgeschieden, das bitterste Schicksal der Slalomfahrer. Diesmal hatte er bei der Auslosung die frühe Startnummer drei erwischt - und die entpuppte sich als Glücksgriff. Bis zum Ende seiner ersten Fahrt hatte der Regen über Schladming ausgesetzt, er fuhr weitestgehend im Trockenen, so trocken wie Schnee halt sein kann - und zog eine makellose Spur in den Hang. Der bis dato beste Slalomfahrer dieser Saison, Manuel Feller aus Österreich, kam kurz nach ihm - und vergleichsweise triefend und mit etwa einer Sekunde Rückstand auf Straßer ins Ziel. Für Schnee gilt: je feuchter, desto weniger flutscht es.
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"Ich hab' die letzte Zwischenzeit gehört", sagt Straßer, "54 Hundertstel, das müsste sich ausgehen"
Es war allerdings kein Erfolg, für den sich Straßer bei irgendwelchen Mächten von oben bedanken müsste. In Lauf zwei trat er den Beweis an, denn nun tropfte der Regen auch auf seine Skibrille. Straßer stand als Letzter oben, eine zweifelhafte Ehre im Slalom, wenn man in der ersten Halbzeit der Schnellste war: Der Druck könnte kaum größer sein als in diesen Momenten alleine oben im Starthäuschen. Unten warteten 30 000 Menschen auf ihn. In der TV-Kommentatorenkabine ließ Bernd Schmelzer vor Straßers finalem Start wissen, dass er selbst dem Nervenzusammenbruch nahe sei, was sein Co-Kommentator - der einstige Schladming-Sieger Rainer Schönfelder - allerdings zu verhindern wusste. Es wäre auch schade gewesen um dieses hörenswerte Duo. Dann war es so weit - und Straßer stürzte sich in die Planai.
Es gelang ihm abermals eine praktisch perfekte Fahrt, ohne erkennbaren Fehler, anders als vor ihm Feller, der Tagesfünfter wurde und im Gesamtklassement der Slalomspezialisten nun etwas knapper vor Straßer führt. Der Münchner indes carvte rhythmisch und spielerisch anmutend von Stange zu Stange, fast als befinde er sich inmitten eines Trainingslaufs. Eine halbe Sekunde Vorsprung hatte er kurz vor dem Ziel auf den vor Clément Noël (Frankreich) führenden Norweger Timon Haugan herausgefahren, wie Stadionsprecher Stefan "Steff" Steinacher wissen ließ. "Ich hab' die letzte Zwischenzeit gehört", sagte Straßer. Und sich gedacht: "54 Hundertstel, das müsste sich ausgehen." Er verlor zwar noch zwei Zehntel, doch das interessierte im Schladminger Regen niemanden mehr. Fünf Tore später war der Skilöwe als erster deutscher Double-Sieger im Ziel.