Ski alpin:Das Phänomen des Einfädlers

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Maßarbeit in Bodennähe: Manchmal fährt der Innenski haarscharf an der falschen Seite der Stange vorbei - dieses Slalom-Schicksal traf Linus Straßer in Schladming. (Foto: Mathias Mandl/Gepa/Imago)

Linus Straßer passiert es am zweiten Tor: Insgesamt vier von fünf deutschen Skirennfahrern unterläuft beim Nachtslalom von Schladming der gleiche Fehler - das hat mit der Technik zu tun.

Von Korbinian Eisenberger, Schladming

Unten stehen 40 000, besser, sie hüpfen und grölen und schwenken ihre Fahnen. Oben steht der Skirennläufer Linus Straßer. Er hat sich viel vorgenommen, besonders in Schladming, beim Nachtrennen. Letztes Jahr hat er es gewonnen. Das Bayerische Fernsehen ist in die Steiermark gekommen, nicht zuletzt wegen der Erfolgsaussichten des Münchners, daran erinnert unten im Zielraum der österreichische Stadionsprecher. Die deutschen Fans werden lauter. Straßer, Startnummer 5, stürzt sich aus dem Starthaus in den Steilhang. Tor eins umfährt er solide - dann passiert es.

Straßer fädelte ein, wie es im Skisport heißt: Der sogenannte Innenski - weiter oben am Hang befindlich als der Außenski - fährt an der falschen Seite der Kippstange vorbei. 63 Tore (davon acht Doppelstangen) hätte er umfahren müssen, nur eines davon umfuhr er. Im Zielhang ging ein Schrei des Entsetzens durch die Menge. Einer der Besten war durch das bitterste Phänomen dieses Sports ausgeschieden. Und es sollten ihm noch einige folgen.

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Fünf Athleten des deutschen Skiverbands waren in Durchgang eins angetreten - vier davon schieden aus, allesamt durch Einfädler. Ja, wirklich. Adrian Meisen widerfuhr es im oberen Teil des Hanges, Alexander Schmid im Mittelabschnitt, und David Ketterer brachte es an der letzten Stange Zentimeter vor der Ziellinie zustande. Einmal eingefädelt, zog es sich wie ein teuflisch roter Faden durch die Slalomfahrten des DSV-Quintetts. DSV-Alpindirektor Wolfgang Maier im Zielraum war inzwischen beim ironischen Grinsen angekommen. Er hat ja schon einiges erlebt, aber so was?

Unter dem Flutlicht des Schladminger Planai-Hausbergs hat es an diesem Dienstagabend auch solche getroffen, die nicht im DSV-Rennanzug unterwegs waren. 21 der insgesamt 71 Athleten verpassten bereits in Durchgang eins das Ziel, etwa die Hälfte davon fädelte ein. Mit am bittersten traf es den Österreicher Adrian Pertl, der im Heimrennen in Lauf zwei schnell unterwegs war - ehe das Slalom-Schicksal auch ihn ereilte.

Als erfolgreichster aller Einfädler des Tages durfte sich der Italiener Alex Vinatzer im Ziel feiern lassen. Er stieg in Durchgang zwei zurück zur eingefädelten Stange - und fuhr das Rennen noch zu Ende. Als 27. bekam er noch vier Weltcuppunkte ab, trotz 20 Sekunden Rückstand auf den Sieger Clement Noel aus Frankreich. Zweiter wurde Ramon Zenhäusern (Schweiz) vor Lucas Braathen (Norwegen). Zehntausende Zuschauer hatten den Österreicher Manuel Feller noch ins Ziel gebrüllt, der fiel von Rang zwei auf Rang vier zurück. Immerhin fädelte Feller nicht ein.

Beste Kurventechnik: Clement Noel aus Frankreich kommt am schnellsten durch den Stangenwald. (Foto: Hans Bezard/Zoom/Getty)

Das Phänomen des Einfädlers hat jeden Slalomfahrer dieser Welt schon heimgesucht, sei er noch so erfolgreich und nah an der Perfektion. Es liegt im Wesenskern dieser Disziplin, die immer rasanter geworden ist. Das Durchschnittstempo im Slalom hat sich von den 1950er-Jahren bis heute nahezu verdoppelt, 40 km/h erreichen die Profis im Schnitt - und in der Spitze wird es noch flotter. In diesem Tempo müssen die Läufer - bei wechselhaftem, teils unvorhersehbarem Untergrund - an jeder Stange zentimetergenaue Maßarbeit in Bodennähe leisten. Die Slalomprofis boxen ja die Stangen weniger mit den Händen von sich, sie rammen sie auf Schienbeinhöhe nach unten. Die Falle hierbei: Im Moment des Passierens sehen die Fahrer die Lücke zwischen Innenski und Stange nicht, ihr Blick durch die Skibrille geht ja nach vorne, zur nächsten Aufgabe. Und so reicht manchmal ein winziger Brocken Schnee, der den Ski um Zentimeter zur Seite und an der Stange vorbeidrängt.

Sie alle kennen es, sie alle wissen, dass es passiert. Und doch zählt es zu jenen unsäglichen Skifahrer-Momenten, für die es keine adäquaten Flüche gibt. Linus Straßer fluchte eventuell trotzdem, nun da er an so vielen von ihm unberührten Stangen den Hang hinabrutschte. Er verzichtete gar auf die Aufmunterung des Arena-Publikums, stattdessen bog er etwa 150 Meter vor dem Ziel nach links Richtung Gondel ab, wo das Flutlicht von der Finsternis verschluckt wird. Straßer dürfte es gleich gewesen sein, er war ja in dieser steirischen Nacht längst auf der dunklen Seite des Slaloms angekommen.

"Wenn ich schneller fahren will, muss ich auch näher an die Tore hin", sagt Sebastian Holzmann - so steigt das Risiko

Auf der Suche nach Erklärungen erwies sich der 30-Jährige später am Abend nicht als die sprudelndste aller Quellen, wer wollte es ihm verdenken. "Das gehört dazu zu diesem Sport", sagte er knapp. Mehr Auskunft geben konnte ein DSV-Athlet, der an diesem Tag tatsächlich zwei Läufe absolviert hatte und sämtliche Tore auf der richtigen Seite zu umkurven wusste: der Allgäuer Sebastian Holzmann. Das Phänomen des Einfädelns erkläre er sich so: Feuchtfröhliche Orte wie Schladming in Kombination mit schimmerndem Flutlicht, meinte er, lasse die Abenteuerlust nicht weniger Kollegen anwachsen. "Jeder versucht, die engste Linie zu fahren, und dann gehst du dieses minimale Stück mehr Risiko", sagte Holzmann. "Dann kann es halt einfach superschnell passieren im Slalom."

Holzmann indes beherrscht sich in solchen Momenten offenbar. Und so beherrscht er nicht zuletzt die Kunst des Nicht-Einfädelns. Er bugsiere seine Skier "generell weiter vom Tor weg", so Holzmann, der mit Startnummer 35 in Durchgang eins arg zerfurchte Pistenverhältnisse vorgefunden hatte. Sein Plan ging dennoch auf, einmal mehr. Er qualifizierte sich trotz hoher Startnummer für Lauf zwei und wurde am Ende auf Rang 18 geführt, genau wie zuletzt bei den Slaloms von Wengen und Kitzbühel. Weiter nach vorn ging es in dieser Saison für ihn nie. Klar, meinte er, "wenn ich schneller fahren will, muss ich auch näher an die Tore hin". Ein Einfädler, meint er, ließe sich dann irgendwann wohl kaum mehr vermeiden.

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