
Der Einfädler ist die größte Niedertracht, die der Skisport zu bieten hat. Das Phänomen hat jeden Slalomfahrer dieser Welt schon heimgesucht, sei er noch so erfolgreich und nah an der Perfektion. Weil die nächste Nähe eben auch eine Gefahr birgt.
Das liegt im Wesenskern dieser Disziplin: Slalom ist der eigentliche Inbegriff für Rasanz und Präzision. Biathleten können sich für ihre Gewehrschüsse Zeit lassen und Strafrunden gar wettmachen, im Slalom ist jeder Schwung eine Gratwanderung auf Kanten und Eis. Das Scharfe muss ums Runde, also um die Kippstange, und wenn ein Eisbrockerl den Innenski zu arg umlenkt, dann kippt nicht nur die Stange zur falschen Seite. Dann kippt alles, unverzeihlich, irreparabel. Aus und vorbei.
Der Münchner Skirennfahrer und Wahl-Kitzbüheler Linus Straßer hat sich dennoch freiwillig für das Spezialfach Slalom entschieden. Er zählt zu den Weltbesten der Branche, aber manchmal, da muss er seine Sparte verfluchen wollen. Etwa, wenn das eisige Schicksal sich mal wieder ihn ausgesucht hat. So wie unlängst in Wengen, Schweiz, als er mit Bestzeit unterwegs war und, genau, einfädelte.

Wäre er doch einfach nur Näher geworden, da gilt Einfädeln als Kunst. Aber der 31-Jährige hat sich anders entschieden. Eventuell, weil dieser Sport ihm doch näher ist als Näher. Etwa, wenn er am Sonntag beim wichtigsten Rennen des Jahres oben im Starthäuschen stehen wird, während ihn am Hang und unten im Zielraum Zehntausende erwarten. Am Ganslernhang von Kitzbühel, also fast bei ihm daheim. Er hat ja schon einen Hang zu diesem Hang, wenn er denn unten ankommt.
Einige Wochen vor dem „Kitz“-Höhepunkt am „Ganslern“ ist Linus Straßer in Südtirol zugange. Und er ist bereit, sich während des Slalomtrainings auf der Piste im Skigebiet Pfelders begleiten und filmen zu lassen – er wird sich im Laufe dieser Geschichte sogar selbst eine Kamera umschnallen. Mit dabei ist auch sein Coach und Vertrauensmann Bernd Brunner, Trainer der Slalomfahrer des Deutschen Skiverbands (DSV).

Straßer selbst wird an diesem Tag in den Bergen auch über die Fragen dieser Zeit sprechen. Es geht ja nicht nur um den richtigen Kantendruck oder um seine persönliche Drucksituation, dass er derzeit der einzige deutsche Alpinskifahrer in Podestnähe ist. Der, auf den viele genau schauen. Es geht eben längst um mehr, um das große Ganze im Skiweltcup und im Skitourismus, um die Zukunft seines Sports.
Wie intensiv Linus Straßer in vielerlei Hinsicht unter Beobachtung steht, lässt gleich der Beginn des gemeinsamen Skitags in Pfelders erahnen: Straßer kommt mit zerzausten Haaren in den Frühstücksraum des Hotels – er habe Besuch, raunt ihm ein Teamkollege zu, der Besucher sitze im Nebenraum ums Eck. Straßer macht sich also ums besagte Eck auf, erblickt den Besucher und fragt entgeistert: „Sind Sie von der Dopingprobe?“
Man kann so einen Termin mit einem Reporter schon mal verdrängen. Und außerdem, erklärt Straßer die Verwechslung, sei er in den vergangenen vier Wochen tatsächlich fünfmal kontrolliert worden, „einer stand an meinem 31. Geburtstag um sieben Uhr morgens vor meiner Haustür und hat geklingelt“. Am Ende war, wie immer, alles negativ.
Jedenfalls: heute keine Dopingkontrolle, sondern Skifahren – und darüber sprechen. Eine gute Stunde später geht es gemeinsam auf den Trainingshang.
Es geht auf eine Piste auf Eis, Weltcuprennbedingungen
Die Techniker haben die Piste mit Wasser zu einer Eisfläche verwandelt, Profirennbedingungen, wie im Weltcup. Auf frisch geschliffenen aber doch arg in die Jahre gekommenen Slalomrennskiern fühlt es sich hier an wie auf Holzlatten.
Die eigene Skiausbildung? Lang her, und so fährt es sich auf diesem Profi-Terrain, als hätte es die Zeit als Jugendrennfahrer nie gegeben. Es muss also nicht zuletzt um die – für Hobbyskifahrer eventuell nicht ganz irrelevante – Frage gehen: Wie gelingt es auf so hartem Grund, Schwünge in den Schnee, ach was, ins blanke Eis zu carven?


Er trete im Training an als wäre es ein Rennen, sagt er. Lediglich die nervliche Anspannung, die sei nicht vergleichbar mit jenen Momenten, in denen ihm Tausende am Streckenrand zusehen. „Ich lasse es enorm laufen im Training“, sagt er. „Aber im Rennen gehe ich durch das Adrenalin noch einen Schritt darüber.“
Die besten deutschen Skirennläufer im Weltcup waren ja meist Slalomspezialisten. Armin Bittner ist zu nennen, sieben Slaloms hat er in den 1980er- und 1990er-Jahren gewonnen, dazu elf Podestplätze. Christian Neureuther kam in den 1970ern auf sechs Siege und 14 Stockerlplätze. Und – natürlich – sein Sohn Felix Neureuther, der mit 13 Einzelsiegen (elf im Slalom, einmal im Riesenslalom, einmal im Parallelslalom, dazu 34 Podestplätze) erfolgreichste deutsche Weltcup-Skifahrer der Geschichte. Wenn man so will, ist Straßer der direkte Nachfolger Neureuthers. Bisherige Weltcup-Bilanz: vier Siege, siebenmal Podium.
Der Erfolg erhöht den Erwartungsdruck – verschafft einem aber auch Vorteile. Straßer hat einen Techniker, der ihm auf der Piste folgt und sogenannte Rutschskier schultert, die Straßer dann vor und nach jedem Lauf gegen die Trainingsskier austauscht, um deren Belag und Kanten zu schonen. Unten am Lifthäusl angekommen, schaut eine Gruppe junger Rennfahrer ehrfürchtig zu ihm rüber. „Das ist der Linus Straßer“, sagt einer, flüstert es fast.

Skifahrer aus der ganzen Welt trainieren hier heute Slalom und Riesenslalom, etwa aus Tschechien, Kanada, USA, Italien, Kroatien, Österreich. Für Touristen ist dieses Skigebiet zeitweise gesperrt, und so offenbart sich hier eine Enklave für den internationalen Skisport, eine Rennklave, wenn man so will. Straßer ist umgeben von jungen Athleten, Jugendlichen und Kindern, die alle irgendwann mal selbst wie er oben im Weltcup-Starthäuschen von Schladming oder Kitzbühel stehen wollen.
Auch darum geht es Straßer, nicht zuletzt deswegen lässt er sich in Pfelders beim Training begleiten: „Der Sport“, sagt er, „egal ob Skifahren oder andere Disziplinen, ist wahnsinnig wichtig für unsere Gesellschaft, vor allem für Kinder.“ Gesundheit, Psyche, das meint er. „Kindern werden beim Skifahren Werte vermittelt fürs Leben, die extrem wichtig sind.“ Durchsetzungsvermögen, Disziplin, kollegiales Gruppenverhalten, Regeln und auch Rückschläge akzeptieren. „Sich mit sich selber beschäftigen, mit Ängsten, mit Druck, auch mit Freude umgehen zu lernen“, zählt Straßer auf. Und weil er das so sieht, reagiert er bei einem speziellen Thema dieser Zeit mitunter so, wie er reagiert: ziemlich leidenschaftlich.
„Man könnte halt auch sagen, dass das alles wahnsinnig wichtig für uns alle ist!“
Wintersportler müssen sich seit einiger Zeit deutlich häufiger als andere Athleten kritischen Fragen zur Klimaerwärmung stellen. Der Wasserverbrauch für die Kunstschneeproduktion, die Emissionen durch oft weite Anfahrten und Liftanlagen, die plattgewalzten Berghänge. Der Skisport ist arg in die Kritik geraten.
Aber Linus Straßer brennt für diesen Sport, wie Feuer auf mit Öl getränktem Schnee, auch deswegen verteidigt er ihn. Er findet, verglichen mit anderen Disziplinen werde das Skifahren in der Öffentlichkeit zu häufig in den Fokus der Klimadebatte gerückt. „Sport ist immer mit Aufwand und Infrastruktur verbunden, es müssen Tennisplätze und Beachvolleyballplätze gebaut werden, es müssen Pisten präpariert werden, Fußballstadien brauchen elektrisches Licht.“ Straßer wirkt nicht, als hätte man ihm seinen Ski zerkratzt, eher aufgekratzt. „Man könnte zum Schluss kommen, das ist alles schlecht und böse“, sagt er. Also den Sport einschränken? Zu Hause rumsitzen stattdessen? „Man könnte halt auch sagen, dass das alles wahnsinnig wichtig für uns alle ist!“
Er steht jetzt wieder oben am Start des Trainings, noch einmal geht es den Slalomhang in Pfelders hinab. Für diese Fahrt bekommt Straßer die SZ-Videokamera vor die Brust geschnallt, das Mikro läuft mit. Seine Fahrt steht kurz bevor, aber er redet noch immer nicht über Laufzeiten. Jetzt redet er über Politik. Straßer erkundigt sich bei einem kanadischen Kollegen über dessen Meinung zum Premierminister Justin Trudeau – ehe er selbst Auskunft über die Verhältnisse in der Bundesrepublik gibt. Später wird er auf Nachfrage berichten, dass er als Profi seine Privilegien durchaus erkenne. „Ich befinde mich eigentlich das ganze Jahr in meiner Bubble.“ Umso mehr gehe es ihm darum, den Blick zu weiten.

Der erfolgreichste Slalomfahrer der Geschichte, Ingemar Stenmark aus Schweden, war in den 1970er- und 1980er-Jahren noch weitgehend ohne die taillierten Carvingski unterwegs, stellte aber damals schon fest: „Das Problem ist: Wer gewinnen will, kann nicht vorsichtig fahren. Es ist das reine Hasardspiel – alles oder nichts.“
Das Durchschnittstempo im Slalom hat sich seit den 1950er-Jahren nahezu verdoppelt, 40 Stundenkilometer erreichen die Profis heute im Schnitt, bei Höchstgeschwindigkeit wird es noch flotter. Die Einfädelei ist eine Teufelei, aber die Zunft der Slalomfahrer hat auch einen Bonus: Slalomhänge sind kurz, ein Rennen zu veranstalten, ist weniger aufwendig als bei Super-Gs und Abfahrtsläufen.
Der Slalom könnte der Abfahrt als Königsdisziplin den Rang ablaufen
In dieser Saison musste, anders als bei den Speedrennen, kein einziger Weltcup-Slalom abgesagt oder verschoben werden, auch nicht bei den Frauen. Die Disziplin ist zudem deutlich weniger auffällig, wenn es um schwere Verletzungen geht. Technik ist mehr das Thema als Geschwindigkeit. So könnte der Slalom, die heimliche Königsdisziplin des Wintersports, in den Zukunftsfragen eventuell eine immer größere Rolle spielen. Weil der Wettkampf kontrollierbarer ist.
Das Hauptthema für Linus Straßer bleibt derweil die Kontrolle seiner Ski – und so stürzt sich der Münchner Skilöwe in den Südtiroler Bergen noch ein letztes Mal in den Hang.
