Rollstuhltennis bei Olympia 2024:Der Flüsterer und seine Freunde

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Einst Profi, Trainer, Musiker, politisch engagiert: Yannick Noah ist eine der großen Sportlegenden Frankreichs und versteht es, Grenzen zu überwinden. (Foto: Julien de Rosa/AFP)

Frankreichs Rollstuhltennis gelingt ein Coup: Tennis-Ikone Yannick Noah führt das Team als Kapitän bei den Spielen in Paris an. Der 63-Jährige könne andere immer noch mitreißen, sagt Stéphane Houdet, Initiator dieser Verpflichtung.

Von Jean-Marie Magro

Alles fing mit einer Strophe eines Liedes an. Stéphane Houdet zitiert sie, die Worte, die sein Herz berührten:

"Cette femme est coupable

Coupable d'espérance

Oh Angela, Angela"

Yannick Noahs Hommage an die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis war die Initialzündung für Houdet, bei der französischen Tennislegende nachzufragen, ob er Kapitän der Rollstuhltennis-Nationalmannschaft Frankreichs werden möchte. Denn in dieser Strophe, sagt der 53-jährige Houdet, finde er sich wieder: Auch er sei der Hoffnung schuldig. Auch er habe Träume, wie Martin Luther King und Bobby Kennedy, die Noah ebenfalls besingt. Houdets Traum ist nicht allein das Gold bei den Paralympischen Spielen 2024 in Paris. Der Veterinärmediziner holte dieses bereits dreimal.

Houdet geht es um mehr.

Um die Akzeptanz der Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung. Darum, dass seine Sportart irgendwann so respektiert wird, dass die Athleten in einer Reihe mit den Größen der ATP und WTA genannt werden. "Unser Spiel hat dieselbe Geometrie, dieselbe Taktik", sagt er. Bei den Australian Open habe Alexander Zverev ihn angesprochen und gefragt, wer derzeit in der Weltrangliste vorne stehe. "Es bewegt sich etwas", ist sich Houdet sicher. Was es jetzt brauche, sei ein Anführer, ein Ermöglicher. Wer wäre dazu besser geeignet als Yannick Noah?

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In Frankreich wird in den Cafés der Provinz, wo häufig die Sportzeitung L'Équipe ausliegt, bisweilen darüber gescherzt, welcher Fluch zuerst beendet werden wird: die Durststrecke nach dem Sieg Bernard Hinaults 1985 bei der Tour de France - oder die nach dem Triumph Noahs bei den French Open, das man in Frankreich lieber Roland Garros nennen sollte, 1983. Noah ist eine der größten Sportlegenden des Hexagons. Geboren in Sedan, aufgewachsen in Kamerun, wo ihn der erste afroamerikanische Grand-Slam-Sieger Arthur Ashe auf einem der nur acht Tennisplätze des Landes ausfindig machte, einen Schläger schenkte und den damaligen Funktionär Philippe Chatrier von diesem Ausnahmetalent berichtete.

Ein Moment, der Yannick Noah in Frankreich unsterblich machte: Am. 5. Juni 1983 besiegt er im Finale der French Open den Schweden Mats Wilander - seitdem gewann kein Franzose den Titel im Männereinzel. (Foto: Bildbyran/Imago)

Noah zog zurück nach Frankreich und legte eine Karriere hin, die in seinem Grand-Slam-Erfolg in Paris gipfelte. Er war eine der großen Attraktionen des Männertennis seiner Generation, neben Lendl, Wilander, McEnroe, Connors, Becker. Sein Spielstil war in vielerlei Hinsicht stilprägend: aggressiv, athletisch, eine unheimliche Präsenz am Netz, gemischt mit einer Note Unterhaltung. Noah suchte die Liaison mit dem Publikum, saugte dessen Energie auf, popularisierte den Tweener, bei dem der Spieler mit dem Rücken zum Netz den Ball durch die Beine schlägt - nur, dass die Schläger damals gemessen an den heutigen Spielgeräten eher an Hackbeile erinnern.

In Typen wie Gaël Monfils und Jo-Wilfried Tsonga ließ sich auch erkennen, wie sehr Noah seine Nachfolger prägte. Doch im Gegensatz zu ihnen gewann Noah eben einen Grand-Slam-Titel. Ging es um den Erfolg, so wusste er Grenzen zu überschreiten, seine eigenen und die der anderen. Bis heute beklagt der einstige Profi, Trainer und Musiker, dass Frankreich keine "Siegerkultur" habe.

Noah spreche leise, weil er davon überzeugt sei, dass ihm die Leute dann besser zuhörten

Das stimmt, meint auch Houdet. "In Frankreich wirst du respektiert, wenn du Geld verdienst, nicht, wenn du ganz oben stehst." Houdet selbst hat 24 Grand-Slam-Titel gewonnen, 20 im Doppel, vier im Einzel. Der Mann aus der Hafenstadt Saint-Nazaire erzählt, dass er schon vor drei Jahren das erste Mal bei Noah angefragt habe, ob dieser nicht Lust hätte, Kapitän seiner Mannschaft zu werden. Noah begleitete die Mannschaft fortan zu Lehrgängen. Und dann, vergangene Woche, während der Mittagspause, kam die Pressesprecherin des Verbandes auf Houdet zu und informierte ihn nebenbei, dass gerade die Pressemitteilung mit der offiziellen Bekanntgabe Noahs als Kapitän herausgegeben wurde. Noah selbst sagte, er sei stolz, diese Aufgabe zu übernehmen: Für ihn sei das "ein Abenteuer im Sinne der Menschlichkeit mit meinen Freunden".

Auch wenn er manchmal als Spaßvogel rüberkäme, Noah sei ein Gewinnertyp, sagt Houdet. Noah, 63, werde nicht laut. Er spreche leise, fast flüsternd, weil er davon überzeugt sei, dass ihm die Leute dann besser zuhörten. Er habe eine Gabe, erzählt Houdet, eine Energie, die von ihm auf andere überspringe. Eine Energie, die einen glauben lässt, dass alles möglich sei.

Selbst ein erfolgreicher Rollstuhltennisspieler: Stéphane Houdet hat in seine Karriere 24 Grand-Slam-Titel gewonnen, 20 im Doppel, vier im Einzel. (Foto: Kohei Maruyama/Aflosport/Imago)

1991, Frankreich hatte bereits 58 Jahre lang keinen Daviscup mehr gewonnen, übernahm Noah die Mannschaft als Kapitän, gleich im Anschluss an seinen Rücktritt als aktiver Sportler. Im Finale standen Guy Forget und Henri Leconte den hochfavorisierten Amerikanern um Pete Sampras und Andre Agassi gegenüber. Leconte plagten seit Monaten Rückenschmerzen, viele fragten, ob er würde durchhalten können. Das erste Spiel verlor Forget, der sich zu stark unter Druck setzte, deutlich gegen Agassi. Doch als er in die Kabine ging und bei Leconte um Entschuldigung bitten wollte, sagte dieser nur: "Mach dir keine Sorgen, dem Typen (Sampras) verpasse ich eine Abreibung, die sich gewaschen hat."

Wie ein Rennpferd in der Box schnaubte Leconte und wiederholte die Worte, schrie sie, als er ins Stadion von Lyon trat. Manche hielten ihn womöglich für verrückt. Und Noah? Klopfte Leconte auf die Schulter und stachelte ihn weiter an. Sampras erlitt in drei Sätzen Schiffbruch.

Zwei Tage später servierte Forget zum Turniergewinn. Bei seinem letzten Aufschlag gegen Sampras erinnerte er sich an ein Zeitungsinterview Noahs, in dem dieser erzählte, was er bei seinem letzten Aufschlag 1983 gegen Wilander gedacht hatte. Links, rechts, auf den Körper? Der banal wirkende Entschluss: Wilanders Schwäche die Vorhand, genau da haue ich drauf! Als Forget nun also selbst grübelte, erinnerte er sich und zwinkerte Noah zu. Auch Forgets größte Stärke war der Aufschlag, Sampras Schwäche die Rückhand. In einer Dokumentation kullern Forget noch 20 Jahre danach die Tränen: "Yannick war so viel mehr als ein Kapitän. Das war sein Matchball." Noah gewann, ebenfalls als Kapitän, den Daviscup zwei weitere Male, einmal zudem den Fedcup mit Frankreichs Frauen.

Noah erhob seine Stimme gegen die Le Pens und für den Kampf gegen Rassismus

Auf diese Erfolge legte sich jedoch mindestens ein Schatten, als Noah den spanischen Sport mit seiner goldenen Erfolgsgeneration öffentlich und ohne Beweise des Dopings beschuldigte - und forderte, dieses für alle freizugeben. Allen sollte es freistehen, vom "Zaubertrank" zu kosten. Zugleich erhob er seine Stimme gegen die Le Pens, ob Vater Jean-Marie oder Tochter Marine, und für den Kampf gegen Rassismus. Heute fleht er die Verantwortlichen im Gazakrieg an, den "Genozid" an den Palästinensern zu beenden und einen Waffenstillstand herbeizuführen. Auf Kommentare in den sozialen Medien antwortet er, dass die Taten der Hamas am 7. Oktober furchtbar gewesen seien. Einen eigenen Beitrag dazu setzte er nicht ab.

Houdet sagt, Noah sei vor allem eines: ein bodenständiger Humanist. Als Noahs Vater 2017 starb, entschied er sich, wieder an den Ort zurückzukehren, an dem er aufwuchs. Heute ist er der Dorfvorsteher von Etoudi, einem Viertel Yaoundés mit 5000 Einwohnern. Noahs ehemaliges Kinderzimmer wurde zu einem Klassenzimmer umfunktioniert. Der Champion pflanzt Bäume, wo einst Buschgestrüpp war.

Wie viele Medaillen man bei den Spielen im kommenden Jahr holen werde: "Also ich allein zwei", sagt Houdet selbstbewusst. "Dann noch eine im Männerdoppel, eine bei den Frauen und eine im Mixed. Macht fünf." Das ist wohl die neue französische Siegerkultur.

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