Spaniens WM-Sieg:Im Streit erblüht

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Salma Paralluelo sitzt im Konfetti und telefoniert vermutlich mit ihren Lieben. (Foto: Memmler/Eibner/Imago)

Spaniens Weg zum WM-Titel ist einzigartig, weil er von einem monatelangen und tiefgreifenden Zerwürfnis erzählt - aber eben auch von einem Team, das die richtigen Lehren zog.

Von Anna Dreher und Felix Haselsteiner, Sydney

Olga Carmona Garcia antwortete noch auf Fragen, als ihr Trainer Jorge Vilda schon in den Saal der Pressekonferenz gekommen war. Er stand am Rand und hörte zu, die goldene Medaille um den Hals, die jedes Mitglied des spanischen Nationalteams am Sonntag in Sydney für den Titelgewinn bei dieser Weltmeisterschaft bekommen hatte.

Während ein Journalist ihn um ein gemeinsames Foto bat, für das der 42-Jährige in die Plakette biss, wollte eine Journalistin von Carmona Garcia wissen, warum Spanien bei diesem Turnier denn gesiegt hatte. "Wir haben großartige Arbeit geleistet. Ohne Zweifel kommen wir aus einem Jahr, in dem wir viel gelitten haben", sagte Carmona Garcia. Für die 23-Jährige sollte dieser Abend noch eine tragische Nachricht bereithalten: Ihr Vater war am Freitag vor dem Finale gestorben, ihre Familie hatte sie davon aber nicht unterrichtet, damit sie sich auf das Endspiel konzentrieren könne - und auch als sie vor den Medien sprach, wusste sie davon noch nichts. Sie sprach daher über die vergangenen Wochen mit dem Team, als sie sagte: "Aber alles passiert aus einem Grund. Alles hat uns geholfen, stärker zu werden und ein Team zu sein. Es ist unglaublich. Warum Spanien? Ich weiß nicht. Aber wir haben es uns verdient."

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Einen Teil der Antwort hatte die zur besten Spielerin des Finals gewählte Siegtorschützin aber schon gegeben. Dieser Triumph war aus Schmerz und Schwierigkeiten entstanden, ein Nährboden, den wohl auch die Spanierinnen selbst noch bis ins Turnier hinein nicht für so fruchtbar gehalten hatten, als dass der größtmögliche Erfolg daraus erblühen würde. Die Vorgeschichte nämlich machte alles noch bedeutsamer und emotionaler.

Auch am anderen Ende der Welt ist zu spüren gewesen, dass viel im Argen liegen muss, wenn 15 Spielerinnen streiken

15 Spielerinnen waren im September 2022 in einen Streik getreten. In einem Schreiben an den Verband erklärten sie, erst weiter für die Auswahl zu spielen, wenn sich "maßgeblich" etwas an den Abläufen rund um das Team ändere. Die Kritik richtete sich gegen die RFEF, konnte aber auch als Misstrauensvotum gegen Vilda verstanden werden. Nach der WM 2015 hatte er das Amt übernommen, das Team auf den großen Bühnen aber nie weit gebracht. Und jenen kolportierten Informationen zufolge, die nach dem Schreiben aufkamen, dabei einen zunehmend kontrollierenden Führungsstil walten lassen. Angeblich beispielsweise in Form von einem Verbot, Hotelzimmer abzuschließen, scheinbar, damit die Anwesenheit jederzeit überprüft werden konnte.

Manche der "Las 15 " beendeten ihren Boykott, drei flogen trotz der offenbar tiefen Gräben mit zur WM. Dass Abwehrchefin Mapi Léon sagte, das Verpassen eines Höhepunktes mache sie traurig, aber sie stehe für ihre Werte ein, unterstrich, dass es hier nicht nur um Banalitäten ging. Wie sie blieben beispielsweise auch Stammtorhüterin Sandra Paños und Mittelfeld-Strategin Patricia Guijarro bei ihrer Haltung - die zentrale Achse von Champions-League-Sieger FC Barcelona. Und selbst wenn es gut lief in Australien und Neuseeland: Auch am anderen Ende der Welt war nicht in Vergessenheit geraten, dass viel im Argen liegen muss, wenn gleich 15 Spielerinnen streiken.

Umstrittener Weltmeister-Trainer: Jorge Vilda. (Foto: Catherine Ivill/Getty Images)

Diverse Male wurde Vilda darauf angesprochen, er antwortete mit schwindender Geduld - am Tag vor dem Finale sagte er nur: "Nächste Frage!" Am Abend danach gab ihm der Titelgewinn genug Rückendeckung für ein Fazit zur Gesamtsituation: "Wenn all das nötig war, um Weltmeister zu werden, war es das wert." Carmona Garcia und er hatten sich beim fliegenden Wechsel abgeklatscht, die Stimmung war gelöst - aber auf die Idee, die Pressekonferenz mit viel Getöse zu stürmen, um ihren Coach hochleben zu lassen, kamen die Spielerinnen nicht. Das hatten manche von ihnen einmal kurz auf dem Platz getan, ansonsten erkannte man bei der Siegesfeier in vielen Szenen die immer noch angespannte Situation in diesem Team. All das aber überwanden Spaniens Fußballerinnen zumindest für einige Wochen im Sommer. Natürlich hatte Vilda Anteil am Erfolg. Aber dieser Titel war vielmehr ein Meisterstück seiner Spielerinnen - und der Nachwuchsarbeit der RFEF.

"Vom sportlichen Niveau her war das ein großartiges Jahr", sagte Vilda, "wir haben Triumphe erreicht, die wir nie zuvor erreicht hatten. Das zeigt, dass es in Spanien sehr viele Spielerinnen mit Qualität gibt." Mit welchem Kader und ohne diverse Stammspielerinnen dieses Kunststück gelungen ist, zeigt tatsächlich die Tiefe des spanischen Talente-Pools und die profunde Ausbildung von Ausnahmespielerinnen.

Neun WM- und EM-Titel holten spanische U-Nationalteams in den vergangenen zehn Jahren. Die 19-jährige Salma Paralluelo hatte zuvor mit der U17 und der U20 WM-Titel gewonnen, nun auch mit den Erwachsenen. Oder Teresa Abelleira, 23, die überraschend souverän aus dem defensiven Mittelfeld heraus die Ordnung im Blick behielt. Hinzu kam die Kreativität und Sicherheit von Streik-Rückkehrerin Aitana Bonmatí, zur besten Spielerin des Turniers gewählt.

Eine Niederlage zur rechten Zeit ebnet den Weg

Was abgesehen vom Kader und Vildas bisweilen mutigen Personalwechseln außerdem entscheidend war: Das 0:4 im letzten Gruppenspiel gegen Japan. Danach stellten sich die Spielerinnen selbst in Frage, Vilda entschied, zum Achtelfinale Cata Coll ins Tor zu stellen und wer immer bei Spanien gedacht hatte, dass fußballerisch-taktische Überlegenheit allein ausreichen könnte bei dieser WM, der sah: Das war ein Trugschluss. Eine "Niederlage zum richtigen Zeitpunkt" nannte Bonmatí die Partie später. Die Spanierinnen zogen die richtigen Lehren daraus.

Wesentlich physischer als sonst traten sie gegen die Schweiz, vor allem aber gegen die Niederlande und gegen Schweden auf, genauso wie im Finale gegen England. Es ging nicht mehr nur um Ballbesitz und das so typische Kurzpassspiel, Elemente, für deren Perfektion spanische Teams bewundert werden. Aber auf einmal zählten auch Mentalität, Zweikämpfe und Pragmatismus: Spanien erzielte seine spielerisch schönsten Tore am Beginn der Vorrunde - gegen die Niederlande brachte ein Konter den Sieg in der Verlängerung, gegen Schweden ein Distanzschuss kurz vor Schluss. "Wir sind gewachsen", sagte Bonmatí über den Turnierverlauf. Diese Feststellung galt umfassend, auf und neben dem Spielfeld.

Wie groß die Spanierinnen noch werden, wird auch davon abhängen, was sich verändert, wenn der Titelrausch abgeklungen ist. Und womöglich auch von personellen Entscheidungen, die mit ihrem Kampf zusammenhängen. Dass RFEF-Präsident Luis Rubiales bei der Siegerehrung Jenni Hermoso energisch auf den Mund küsste, hatte in der Öffentlichkeit Entsetzen ausgelöst. Insbesondere er hatte sich für Vilda stark gemacht, als die Kritik der Spielerinnen aufkam. Nun scheint möglich, dass es auf gleich zwei zentralen Positionen Wechsel im Verband geben könnte. Die Geschichte der Spanierinnen und ihres Streits, sie ist mit dem WM-Titel von Sydney wohl noch nicht zu Ende erzählt.

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