Abwehrchefin Marina Hegering:Die Nummer fünf räumt auf

Lesezeit: 5 min

Sechs Treffer, noch kein Gegentor bei dieser EM: Marina Hegering (Mitte) mit Kapitänin Alexandra Popp. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Erst mit 28 bestritt Marina Hegering nach einer langen Verletzungsgeschichte ihr erstes Länderspiel. Bei der EM zeigt sich, dass die Abwehrchefin inzwischen zu den wichtigsten Stützen des Nationalteams gehört.

Von Anna Dreher, London

Klara Bühl und Marina Hegering saßen auf Barhockern, ein Tablet vor sich, auf dem Szenen aus dem EM-Spiel gegen Spanien liefen. Sie sahen erst das frühe 1:0 von Bühl in der dritten Minute, als nächstes die zehnte Minute. "Ah! Oh! Fehler von der Nummer fünf", sagte Hegering, die Nummer fünf, in dem vom DFB publizierten Video: "Ich komm ein bisschen zu spät, gehe trotzdem vor und hätte besser daran getan, wenn ich hinten geblieben wäre in der Kette. Und ich weiß noch genau, wie Kathi ruft: Marina, Neiiiin! Aber es ist ja Gott sei Dank nichts passiert." Dass die Spanierin Lucia Garcia, alleine auf Torhüterin Merle Frohms rennend, jene Chance nicht zum 1:1-Ausgleich nutzte, war Glück. Dass die Spanierinnen beim 2:0-Sieg der Deutschen auch keine andere Chance verwerteten, lag allerdings nicht zuletzt an Marina Hegering.

Deutschland hat neben Gastgeber England als einziges EM-Team bisher zweimal zu Null gespielt. Das letzte Gruppenspiel am Samstag (21 Uhr, ZDF) gegen Finnland in Milton Keynes - für das Felicitas Rauch und Lena Oberdorf gelbgesperrt ausfallen - ist für die Fortsetzung des Turniers unerheblich: Die DFB-Frauen stehen als Tabellenerste sicher im Viertelfinale am nächsten Donnerstag, Gegner wird Österreich sein. Hegering hat mit ihrer Ruhe und Abgeklärtheit die Defensive des Nationalteams stabilisiert, gelenkt und so dafür gesorgt, dass sich das Selbstbewusstsein gefestigt hat. Das hatte sich schon beim Auftakt gegen Dänemark (4:0) gezeigt, rückte gegen Spanien aber erst recht in den Fokus. Denn an diesem Abend wurde besonders deutlich, dass Hegering eine der wichtigen Protagonistinnen im DFB-Kader ist.

Auch dafür gab es eine beispielhafte Szene: Nach einer Ecke in der 56. Minute köpfelt Spaniens Kapitänin Irene Paredes den Ball gefährlich aufs Tor, Hegering klärt souverän von der Linie und geht direkt hinterher. Bühl stoppte an dieser Stelle das Video. "Ich hab' da mal eine Frage an dich", sagte die Offensivspielerin: "Wie schaffst du das, so schnell zu reagieren und den dann noch irgendwie wegzuköpfen?" Hegering zuckte mit den Achseln und wirkte etwas verlegen: "Weiß ich nicht." Also hakte Bühl nach: "Ist das einfach so, diese Handlungsschnelligkeit, die hast du einfach?" Hegering nickte: "Ja, einfach machen. Der Ball darf einfach nicht ins Tor, das ist das Ziel. Das ist so ein bisschen intuitiv." So einfach? "Ja, krass, das bewundere ich", sagte Bühl, "krass".

Als die Ferse zu schmerzen begann, folgten Jahre ohne Spielpraxis.

Vor dem Turnier in England war schon klar, wie entscheidend Hegering für die deutsche Abwehr sein würde. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg schätzt die 32-jährige Innenverteidigerin. Sie kennen sich lange. Beim damaligen Spitzenteam FCR Duisburg gab Hegering mit 16 ihr Bundesligadebüt, die beiden gewannen zwei Mal den DFB-Pokal sowie 2009 den Uefa Women's Cup, die heutige Champions League. Hegering hat einen Weg hinter sich, auf dem die meisten unterwegs wohl aufgegeben und eine andere Richtung eingeschlagen hätten. Ihre Geschichte ist eine der ungewöhnlichsten bei dieser EM.

Erfolgreiche Zeit mit dem FCR 2001 Duisburg: Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg (rechts) gewinnt als Bundesliga-Coach 2010 den Pokal mit ihren heutigen Nationalspielerinnen Marina Hegering (hintere Reihe, vierte von links) und Alexandra Popp (hintere Reihe rechts). (Foto: Imago)

Die gebürtige Bocholterin spielte für die U15, U17, U19 und U20 des DFB, schon damals als Leistungsträgerin. Mit Almuth Schult, Svenja Huth und Alexandra Popp aus dem aktuellen Kader gewann sie 2010 die WM. Dass sie eine der ganz Großen werden könnte, stand außer Frage. Aber dann verletzte sich Hegering an der rechten Ferse. Nach der ersten Operation verheilte die Wunde nicht gut, ihr Fuß ließ ihr keine Ruhe. Sechs lange Jahre war sie raus. "Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, nochmal auf so einem Level Fußball zu spielen, und ans Aufhören gedacht", erzählte sie vor drei Jahren. Bis auf ein kurzes Intermezzo 2013 ging nichts, nach einem Sportstudium begann sie eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete in einem Bauunternehmen. Aber sie kehrte zurück in die Bundesliga, 2017 bei der SGS Essen.

Vielleicht ist es ihr wie in einem Märchen vorgekommen, dass sie nach all diesen Jahren einen Anruf erhielt von Voss-Tecklenburg, die inzwischen Bundestrainerin war. Im April 2019 absolvierte Hegering mit 28 ihr erstes Länderspiel - bevor sie für die WM nominiert wurde. "Ihre Lebensgeschichte ist etwas Besonderes. Ich glaube, dass sie mit ihrer Erfahrung ganz wichtig fürs Team werden kann", sagte Voss-Tecklenburg damals. Dem war so, im Viertelfinale 2019 gegen Schweden verschätzte sich Hegering jedoch bei einem langen Ball. Das daraus folgende 1:1 war der entscheidende Bruch, der das deutsche Team derart aus dem Rhythmus brachte, dass es ausschied. Hegering aber zerbrach daran nicht. Im Sommer 2020 wechselte sie zum FC Bayern und war mit 30 endlich Profi.

"Einstellung und Disziplin - Wahnsinn, da komme ich ins Schwärmen."

Ihre robuste Zweikampfführung, die trotz nur 1,70 Metern Körpergröße ausgeprägte Kopfballstärke sowie der gute Spielaufbau überzeugten die Münchner. "Ihre Einstellung und Disziplin - Wahnsinn, da komme ich ins Schwärmen", sagte Jens Scheuer, der von 2019 bis 2022 die Bayern-Fußballerinnen trainierte, am Freitag der SZ: "Marina verändert ein Team, das sieht man auch bei der Nationalmannschaft. Sie gibt allen Sicherheit. Die anderen wissen: Wenn es brenzlig wird, ist Marina da und räumt auf." Sie trete ruhig und souverän auf, nie habe er sie hektisch erlebt, sagt Scheuer. Welchen Einfluss Hegering hat, lässt sich auch an Zahlen ablesen. In der Saison vor ihrer Ankunft lautete die Torbilanz der Münchnerinnen 60:14, mit Hegering gewannen sie die Meisterschaft - mit nur neun Gegentoren. 2021/22 waren es dann wieder 18 Gegentore und Platz zwei. Wer fehlte? Hegering.

"Ich sehe die Auszeichnung als Sinnbild und nicht dafür, dass ich etwas Besonderes gemacht habe" - nach dem Spiel gegen Spanien (links Lucia Garcia) wird Marina Hegering als beste Spielerin ausgezeichnet. (Foto: Paul Terry/Sportimage/Imago)

In der abgelaufenen Bundesligasaison konnte sie gerade mal fünf Spiele bestreiten, das Knie bereitete Probleme. Im April kehrte sie auf den Platz zurück, bis auf die Partie gegen Potsdam am letzten Spieltag jedoch ausschließlich im zweiten Team der Bayern. Lange stand wegen der Fitness der ältesten Spielerin im EM-Kader ein Fragezeichen hinter ihrer Teilnahme. "Sie hat viele große Turniere verpasst und will noch etwas erreichen. Sie ist brutal ehrgeizig, das treibt Marina an", sagte Scheuer.

Wie bodenständig sie dabei ist, zeigte sich nach dem Sieg gegen Spanien. Dass sie zur besten Spielerin gewählt wurde, war ihr eher unangenehm. "Ich glaube, ich hatte so wenig Ballkontakte wie in keinem anderen Spiel, das Mittelfeld hat richtig gute Vorarbeit geleistet", sagte Hegering, die laut Statistik dennoch die meisten erfolgreichen Pässe gespielt hatte. "Das war eine brutal gute Defensivleistung, da kann man eigentlich niemanden herausheben. Ich sehe die Auszeichnung als Sinnbild und nicht dafür, dass ich etwas Besonderes gemacht habe."

Es war tatsächlich eine geschlossene Teamleistung, aber eben eine, die von hinten heraus eine entscheidende Stütze hatte. Hegering und Kathrin Hendrich ergänzen sich in der Abwehrmitte gut. Hendrich ist ein etwas anderer Typ, schneller, aber weniger nach vorne agierend. Dass dieser Block steht und mit Torhüterin Frohms gut kommuniziert, hilft auch der vor der EM kaum eingespielten Kette mit Giulia Gwinn und Felicitas Rauch auf Außen.

Wer unter den Nationalspielerinnen das Zeug zur Bundestrainerin hat, steht für Lena Oberdorf jedenfalls außer Frage: "Marina Hegering, sie ist sehr laut auf dem Feld, fordert immer 100 Prozent ein und hat auch das Verständnis." Nach der EM wird Hegering beim VfL Wolfsburg spielen, im Anschluss steht ihr eine Trainerinnenstelle in Aussicht. Aber vorher sollen noch einige erfolgreiche Länderspiele hinzukommen. Die Abwehrchefin hat ja erst 22.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Mütter bei der Fußball-EM
:"Ich liebe es. Es ist das tollste Gefühl der Welt"

Mutter sein und Profifußball - das war und ist kein einfaches Thema. Doch viele Beispiele bei der EM zeigen, dass die Doppelrolle inzwischen besser funktioniert. Auch im deutschen Team gibt es Vorbilder.

Von Anna Dreher

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: