DFB-Elf bei der Fußball-EM:Die Bank pusht

Lesezeit: 4 min

Nicole Anyomi (Mitte), eigentlich Stürmerin, im Nationalteam Rechtsverteidigerin, trifft gegen Finnland nach ihrer Einwechslung. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Ein Erfolgsfaktor der deutschen Auswahl bei der EM ist der große Einfluss der Einwechselspielerinnen. Entweder ganz direkt, wie Nicole Anyomi gegen Finnland zeigt - aber noch viel mehr psychologisch und atmosphärisch.

Von Anna Dreher, Milton Keynes

Am Morgen hatte Martina Voss-Tecklenburg so eine Vorahnung, also erzählte sie Nicole Anyomi davon. "Ich habe zu Nici heute Morgen gesagt: Mein Bauchgefühl sagt mir, du schießt ein Tor", sagte die Bundestrainerin Samstagnacht. Sie hatte gerade ein Spiel des deutschen Nationalteams gesehen, das sie als "nicht super brillant", aber "sehr seriös" und "wieder leidenschaftlich" bewertete. Vor allem aber konnte Voss-Tecklenburg nach dem 3:0 gegen engagiert verteidigende Finninnen im letzten Gruppenspiel dieser Europameisterschaft zufrieden sein mit ihren Entscheidungen - und ihrem Bauchgefühl.

Die Bundestrainerin hatte Anyomi zur zweiten Halbzeit in der Defensive für Giulia Gwinn eingewechselt. Eigentlich ist sie Stürmerin bei Eintracht Frankfurt, Flügelstürmerin, um präzise zu sein, sie soll bei der Nationalmannschaft aber hinten rechts verteidigen. Doch die 22-Jährige gab auch ihrem fußballerischen Naturell nach. Erst war sie am 2:0 durch Kapitänin Alexandra Popp (drittes EM-Tor im dritten EM-Spiel, zum dritten Mal per Kopf) mit dem vorletzten Ball entscheidend beteiligt. Dann stand sie genau richtig, um nach einem gescheiterten Klärungsversuch der Finninnen das 3:0 zu erzielen. Als Anyomi danach aus den Umarmungen ihrer Mitspielerinnen auftauchte, war ihr anzusehen, wie überwältigt sie war.

Fußball-EM
:Deutschland bleibt auch gegen Finnland souverän

Schon vor dem letzten Gruppenspiel stand die DFB-Auswahl als Gruppensieger fest - doch auch dieses auf dem Papier bedeutungslose Spiel entscheidet das Team von Bundestrainerin Voss-Tecklenburg klar mit 3:0 für sich.

Von Anna Dreher

"Sie fremdelt ab und zu mit dieser Rolle, die wir ihr zutrauen, hinten rechts zu agieren. Das Tor hilft ihr sicherlich, für die Zukunft die nächsten Schritte zu machen und immer wieder den Glauben an ihre eigene Stärke zu haben", sagte Voss-Tecklenburg. Anyomi bestätigte die Einschätzung der Bundestrainerin: "Ich habe da noch immer einige Fragen, auch taktisch, wo ich nicht genau weiß, wie ich reinschieben muss oder vorgehen kann", sagte sie. "Ich glaube, durch Spielminuten kommt das alles von alleine."

"Wir sehen es als unseren Auftrag, dass wir hinterher genauso kaputt sind wie die, die spielen", sagt Linda Dallmann

In jedem Fall fügte sich Anyomi in jenen Ausschnitt des Gesamtbildes, dem bei diesem Turnier eine besondere Bedeutung zukommt. Wenn später einmal auf diese EM zurückgeblickt wird, wird es auch um die Einheit und den Zusammenhalt im deutschen Team gehen. Um die Energie, die auch von denjenigen gekommen ist, die durchaus Grund zum Grummeln hätten, sich aber erst mit Leibchen und dann ohne Leibchen bestens eingefügt haben. Gleich zum Auftakt gegen Dänemark ist das deutlich geworden: Alle Einwechselspielerinnen waren direkt oder indirekt an Abschlüssen beteiligt. Dass Deutschland als Gruppensieger ins Viertelfinale gegen Österreich diesen Donnerstag (21 Uhr, Liveticker SZ.de) eingezogen ist, hat viel mit der Charakteristik des Kaders zu tun.

Linda Dallmann im EM-Gruppenspiel gegen Finnland: Da durfte sie mal ran - und glänzte prompt. (Foto: Peter Cziborra/Reuters)

"Wir sehen uns da ganz klar als wichtigen Faktor, um die Mannschaft durchgehend zu pushen. Man merkt auch, dass es die Mannschaft erreicht", sagte Linda Dallmann zwischen dem zweiten und dritten Gruppenspiel. "Wir sehen es als unseren Auftrag, dass wir hinterher genauso kaputt sind wie die, die spielen. Ich glaube, das leben wir seit Turnierstart sehr gut." Nur wenn wirklich jede hinter jeder steht, kann das hier etwas werden - das scheint eine der durchdringendsten Erkenntnisse vor allem während der drei Vorbereitungslehrgänge in Frankfurt und Herzogenaurach gewesen zu sein.

Womöglich eine Binse, aber eine, die schwierig umzusetzen ist. Erst recht in einer Gruppe von ehrgeizigen Menschen, die um elf Positionen kämpfen. Und die auf dem Weg nach England erklärtermaßen in einigen Gesprächen Unstimmigkeiten überwinden mussten, in der Zusammenarbeit zwischen den Spielerinnen, aber auch mit dem und im Trainerteam. "Wir haben es geschafft, auf den Punkt zusammenzurücken. Diese Stimmung kann ich nicht richtig erklären, das kann man nicht greifen", sagte Laura Freigang, die an der Seitenlinie am auffälligsten mitgeht. "Ich habe das Gefühl, dass ich zum ersten Mal etwas miterlebe, worüber immer gesprochen wird: das besondere Etwas. Ich will nichts verschreien, aber wir haben auf jeden Fall ein besonderes Mannschaftsgefüge, von dem wir profitieren."

Vor dem Viertelfinale sind alle deutschen Feldspielerinnen eingesetzt worden

Von den insgesamt 23 haben sich im deutschen EM-Kader in jeder Partie die zwölf auf der Bank eine ganz eigene Aufgabe gesetzt, der sie mal mehr, mal weniger in Vollzeit nachgehen. "Wir haben uns da als Team zusammengesetzt und gesagt, was ganz klar unsere Rolle ist, was die Mannschaft von uns braucht, wenn wir nicht spielen", erklärte Dallmann. Am Samstagabend erfuhr sie erstmals bei dieser EM, wie auch Lena Lattwein, wie sich das von Beginn an anfühlt. Die beiden vertraten die angeschlagene Lina Magull und die gelbgesperrte Lena Oberdorf im Mittelfeld. Dallmann tat das so überzeugend, dass sie zur besten Spielerin gewählt wurde. "Wir haben von Anfang an betont, dass es egal ist, wer spielt", sagte sie auf der Pressekonferenz. "Alle sind bereit, alle haben Lust, das lässt einfach nicht nach."

Mit Anyomi die zweite Verteidigerin, die gegen Finnland getroffen hat: Sophia Kleinherne (links) mit ihrer Frankfurter Teamkollegin Sara Doorsoun. (Foto: Nigel Keene/Imago)

Sophia Kleinherne gab ihr EM-Startelf-Debüt als Linksverteidigerin für die gelbgesperrte Felicitas Rauch und traf nach 40 chancenreichen, aber ineffizienten Minuten per Kopf zum 1:0. Auch Innenverteidigerin Sara Doorsoun durfte beginnen, womit alle Feldspielerinnen eingesetzt worden sind. Denn Voss-Tecklenburg beendete schließlich auch die längste Wartezeit: In der 76. Minute wechselte sie Freigang ein, die davor jede einzelne Person in ihrer Nähe mit DFB-Logo abklatschte. "Ich habe die ganze Atmosphäre ja schon die letzten beiden Spiele total aufgesaugt, ich war danach immer total fertig, als hätte ich selbst gespielt", sagte Freigang auf dem Weg zum Bus. "Jetzt habe ich endlich wirklich gespielt."

Mit neun Toren in 13 Länderspielen hat sie eine herausragende Quote, reiht sich bei der EM aber ein hinter Popp, Lea Schüller - die coronainfiziert noch in ihrem Hotelzimmer isoliert wird - und Tabea Waßmuth. Wie sie ihre Rolle annimmt, war vorher explizit gelobt worden. "Riesenkompliment an Laura Freigang, die bisher noch nicht zum Einsatz kam, aber sich jedes Spiel aufs Neue das Herz aus der Seele schreit", sagte Lattwein in diesen Tagen. "Sie pusht immer, bei jeder Szene geht sie total mit, und das tut wirklich gut, das tut auch der Startelf gut."

Im Viertelfinale gegen die nicht zu unterschätzenden Österreicherinnen dürfte Voss-Tecklenburg größtenteils wieder auf ihre nominelle erste Besetzung setzen. Oberdorf und Rauch sind nicht mehr gesperrt, Schüller könnte bald freigetestet sein, Magull und Lohmann sind wahrscheinlich rechtzeitig fit. Andere werden das Spiel wieder größtenteils mit einem Auswechsel-Leibchen beobachten - und ihrer selbstgesetzten Aufgabe nachgehen, ganz ohne Grummeln.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Abwehrchefin Marina Hegering
:Die Nummer fünf räumt auf

Erst mit 28 bestritt Marina Hegering nach einer langen Verletzungsgeschichte ihr erstes Länderspiel. Bei der EM zeigt sich, dass die Abwehrchefin inzwischen zu den wichtigsten Stützen des Nationalteams gehört.

Von Anna Dreher

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: