Als Joti Chatzialexiou in Australien angekommen war, durfte er direkt Weihnachten feiern. "Christmas in July" nennen sie das hier, Weihnachten im Juli, weil es auf der südlichen Hälfte des Globus gerade die passenderen kühleren Temperaturen dafür hat als im Dezember. Und wenn ein solcher Brauch hier schon dazugehört, wollte auch das deutsche Nationalteam mitfeiern und den Sportlichen Leiter der DFB-Nationalmannschaften auf diese Weise willkommen heißen. Die eigentliche Bescherung aber fand ein paar Tage später statt, mit dem 6:0 gegen Marokko zum Start in diese Weltmeisterschaft.
Davon war Chatzialexiou noch immer begeistert, als er am Mittwoch auf der Pressekonferenz über dieses Turnier und die DFB-Frauen sprach. Das Spiel war relativ früh zugunsten der Deutschen entschieden - und hat viel Anspannung gelöst. "Das ist ganz gut, wenn man oben sitzt, ohne groß einen Herzinfarkt zu bekommen", sagte der 47-Jährige. Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) ist ansonsten gerade ja nicht groß Entspannung angesagt.
Der Verband steckt in einer Krise. Institutionell, weil er rund um Länderspiel-Einnahmen zwischen 2018 und 2022 Ärger in Steuerfragen hat, was eine interne Compliance-Untersuchung nach sich gezogen hat. Zuvor musste bereits ein Haushaltsloch von 30 Millionen Euro für das Etatjahr 2021 bekannt gegeben werden. Und sportlich, weil erst die DFB-Männer bei der WM im Dezember und dann die erfolgsverwöhnte U21 (Finale 2019, Titel 2017 und 2021) bei der EM Ende Juni schon nach der Gruppenphase wieder nach Hause reisen mussten. Letzteres hatte Chatzialexiou als "Super-Gau" bezeichnet. Und nun reagierte auch noch Bundestrainer Hansi Flick äußerst gereizt nach öffentlicher Kritik an seiner Arbeit.
Bei den Fußballerinnen schalteten jüngst mehr Zuschauer ein als beim Männer-Team
Da hilft es, dass die weibliche U19 am Donnerstagabend ein EM-Halbfinale bestreitet - und vor allem, dass die Frauen nach holprigen Monaten zuverlässig zum richtigen Zeitpunkt abliefern. Zumindest vorerst. Schon 2022 hatten die Fußballerinnen mit dem Finaleinzug bei der EM in England mehr in der öffentlichen Gunst gestanden als auf der anderen Seite die Männer beim politisch umstrittenen Turnier in Katar, zudem mit internen Querelen.
Das EM-Endspiel der Frauen in Wembley war mit fast 18 Millionen Zuschauern das TV-Event mit der höchsten Quote des Jahres in Deutschland. Und obwohl der WM-Auftakt gegen Marokko am Montag um 10.30 Uhr deutscher Zeit angepfiffen wurde, schalteten 5,61 Millionen Zuschauer ein. Beim jüngsten Test-Länderspiel der Männer gegen die Ukraine waren es 4,57 Millionen, Anstoß 18 Uhr. Der Frage, ob sich da gerade etwas verschiebe, wich Chatzialexiou aber lieber aus. Das überraschend hohe Interesse am Vormittag sei "ein schönes Zeichen", sagte er. "Ich weiß gar nicht, ob unsere Spielerinnen sich mehr über das 6:0 oder über die Einschaltquote gefreut haben. Natürlich ist das ein Thema, darüber wird diskutiert. Das macht was mit einem."
Bei dieser WM gibt es für das deutsche Nationalteam ja gewissermaßen drei Ebenen. Erstens: eigene sportliche Ziele mit dem Anspruch, nach 2003 und 2007 wieder diesen Titel zu gewinnen. Zweitens: mit Auftritt und Spielweise eine Begeisterung beim Publikum sowie an der Basis auszulösen, die zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt. Drittens (für die einen mehr, für die anderen weniger wichtig): die sportliche Bilanz des DFB zu retten. Was nach den bisherigen Eindrücken der Vorrundenspiele nicht leicht werden wird, die meisten Ergebnisse fielen knapp aus, auch Favoriten taten sich schwer. Und Auftaktgegner Marokko kann kaum als Maßstab genommen werden. "Ich will nicht die Euphorie bremsen, aber ich weiß, was so ein Turnier auslösen kann, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung", sagte Chatzialexiou. "Deswegen muss man jetzt auch die Nerven bewahren."
Vor der WM hatte Chatzialexiou noch blumig formuliert, dass er sich freuen würde, wenn die Nationalspielerinnen "die deutschen Fußballfans diesen Sommer noch mal wachküssen können" und das Team für "ehrlichen Fußball" stehe, den die Menschen zu schätzen wüssten. Bevor er sich nach der Pressekonferenz wieder auf den Weg ins Teamquartier machte, sagte er noch, eine gute WM zu spielen sei für den Verband insgesamt wichtig, unabhängig von den Männern, "der Sommer war dürr". Die Frauen jedenfalls hätten Spielerinnen im Kader, die den Unterschied machen könnten. Alexandra Popp habe außerdem gezeigt, wie wertvoll sie sei. Und so hofft der Mann, der die deutschen Nationalteams verantwortet, quasi als Weihnachtswunsch: "Dass wir das auch in den nächsten Spielen erleben können - und dass Poppi noch das eine oder andere Tor macht."