Lena Oberdorf im DFB-Team:Mit 20 eine Strategin

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Jüngste deutsche WM-Debütantin: Lena Oberdorf überzeugte schon vor drei Jahren und ist inzwischen zu einer Führungsspielerin gewachsen. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Lena Oberdorf gilt als "Jahrhunderttalent" und auf der Sechs bereits als eine der Besten der Welt. Bei der EM stabilisiert sie die starke deutsche Defensive - und lässt sich von der Aufregung um ihre Person nicht beeindrucken.

Von Anna Dreher, London

2019 bei der Weltmeisterschaft in Frankreich lief das Auftaktspiel gegen China anfangs nicht so, wie sich Martina Voss-Tecklenburg das vorgestellt hatte. Ihr Team ließ sich zunehmend verunsichern und benötigte dringend Stabilität auf einer Schlüsselposition im zentralen Mittelfeld. Also wechselte die Bundestrainerin nach der Halbzeit eine jugendliche Fußballerin ein, die nebenbei noch für Klassenarbeiten lernen musste.

Klingt wie ein Widerspruch? Tatsächlich war Lena Oberdorf damals die jüngste Spielerin im Kader und hatte noch nie eine so große Bühne betreten. Mit 17 Jahren, fünf Monaten und 20 Tagen löste sie - in ihrem erst vierten Einsatz für die Nationalelf - Birgit Prinz als jüngste deutsche WM-Debütantin ab. Und tatsächlich: Sie erfüllte ihren Auftrag, sie brachte beim 1:0-Sieg Präsenz und Stabilität ins Team. Sie spielte, als sei sie schon ewig dabei gewesen.

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Die Aufregung um Oberdorf war danach groß. Aber sie gehört zu jenen Menschen, die sich nicht leicht beeindrucken lassen. Drei Jahre später ist sie mit 20 immer noch jung (nach der 19-jährigen Jule Brand die zweitjüngste im Team), und längst zur unumstrittenen Stammkraft gewachsen. Lena Oberdorf gilt auf der Sechserposition im defensiven Mittelfeld als eine der besten Fußballerinnen weltweit.

Ihr Wert für das deutsche Spiel ist auch bei der Europameisterschaft in England enorm, und dass Oberdorf bisher viel Selbstbewusstsein zeigt, kann dem Team bei der nächsten Herausforderung nur helfen: Am Mittwoch im Halbfinale in Milton Keynes (21 Uhr, ZDF) wartet Frankreich, ein Gegner mit hoher individueller Qualität und viel Dynamik. Vor allem nach dem hart erarbeiteten 2:0 im Viertelfinale gegen Österreich ist klar geworden, welche Rolle Oberdorf einnimmt bei der Reise, die ins Finale nach Wembley führen soll. So engagiert und kompromisslos wie sie ging kaum eine andere in die Zweikämpfe, ihre Übersicht und Ruhe stachen heraus. Und wie abgezockt muss eine sein, die den Ball in so einem Spiel über den Kopf einer Gegnerin lupft und dann davonläuft?

Das deutsche Team hat als einziges noch kein Gegentor - Oberdorf ist zentral für die Defensive

Lena Oberdorf stabilisiert nicht nur verlässlich das Mittelfeld, sondern sorgt überhaupt für Balance. Und das bisweilen in heiklen Phasen, wenn andere nachgelassen haben. Torhüterin Merle Frohms ordnete diese Phasen nach der Partie gegen Österreich als Ausdruck einer Nervosität ein, die eben dazugehöre, wenn man etwas zu verlieren habe - auf Oberdorf aber sprang diese Unsicherheit offenbar gar nicht erst über.

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Sie hatte das abschließende Gruppenspiel noch gelbgesperrt verpasst, nun kam sie eindrücklich zurück. "Das war mein bestes EM-Spiel", sagte Oberdorf. "Ich habe gefühlt das ganze Spiel nur Zweikämpfe bestritten. Aber ich hatte auch zwei, drei gute Dribblings, wo ich dachte: Wow, ich wusste nicht, dass ich so gut dribbeln kann." Lina Magull nannte sie danach eine "geile Maschine".

"Mit Anfang 20 so eine Leistung zu zeigen, beweist, dass sie eine ganz große Zukunft vor sich hat": Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg (links) ist beeindruckt von Lena Oberdorf. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Ihre Freude am Verteidigen brachte Oberdorf auch ein explizites Lob der Bundestrainerin ein. "Was Lena in diesen jungen Jahren gespielt hat, mit einer Reife, mit einer Intensität, mit einer Lust, Bälle zu erobern und diese Defensivlust zu feiern und auf ihre Mitspielerinnen zu übertragen - das war klasse", sagte die 54-Jährige. Es ist ja nicht so, dass ihre Spielerinnen bei dieser EM jeden Gegner überrollt hätten. Aber sie bilden noch immer das einzige Team ohne Gegentor. Die geschlossene Defensive stützt sich zum einen auf Frohms und die Viererkette. Aber eben auch darauf, dass schon weiter vorne verteidigt wird und Oberdorf hierfür elementar ist. "Mit Anfang 20 so eine Leistung zu zeigen, beweist, dass sie eine ganz große Zukunft vor sich hat", sagte Voss-Tecklenburg. "Ich bin froh, dass sie für Deutschland spielt und nicht für jemand anderen."

Mit welcher Selbstverständlichkeit Oberdorf auftritt, ist bemerkenswert

Bei dieser "Defensivlust" hat sich Oberdorf von Spaniens Sergio Ramos inspirieren lassen, von dem sie sich Videos angeschaut hat - gemeinsam mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Tim, der Profi beim Zweitligisten Fortuna Düsseldorf ist. Auch an Sergio Busquets vom FC Barcelona orientiert sie sich.

Neben ihrer Athletik ist ihr strategisches Verständnis erstaunlich. Dass Oberdorf in England für die Sechser-Position gesetzt ist, kommt ihr entgegen. Ursprünglich war sie nach der WM 2019 für die Innenverteidigung vorgesehen, was aber mehr zu Debatten mit der Bundestrainerin führte als zu einem verbesserten Spielfluss. Voss-Tecklenburg hatte offenbar das Gefühl, sie durch Zurufe von der Seitenlinie steuern zu müssen, Oberdorf verlor ihren natürlichen Instinkt für die Situation, das passte irgendwie nicht - und so wurde sie wieder nach vorne gezogen. "Wenn Martina mich brauchen sollte, bin ich bereit, in der Innenverteidigung zu spielen", sagte Oberdorf in England. "Aber dank der Rückkehr von Marina Hegering haben wir ja eine gute Abwehrchefin."

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Mit 16 wechselte die in Gevelsberg im Ruhrgebiet geborene Oberdorf in die Bundesliga zur SGS Essen. Bei ihrem ersten Spiel für ihren neuen Verein im DFB-Pokal schoss sie - wie auch bei ihrem Bundesliga-Debüt - zwei Tore und entwickelte sich schnell zur Leistungsträgerin. Hegering, damals wie die EM-Spielerinnen Lea Schüller oder Linda Dallmann ihre Kollegin in Essen, befand seinerzeit: "Sie ist bereits eine Persönlichkeit auf dem Platz, hat Ausstrahlung und weiß sich gut zu verkaufen. Von ihr wird man noch viel hören."

Es dauerte nicht lange, bis die oft als "Jahrhunderttalent" gepriesene Oberdorf die Aufmerksamkeit großer Vereine auf sich zog. Im Sommer 2020 wechselte sie zum VfL Wolfsburg, zu Beginn der EM verlängerte sie ihren Vertrag beim Double-Sieger bis 2025. Erst mal ankommen, lautete ihr Plan. Aber sie fügte sich in kurzer Zeit ein in ein hochveranlagtes Kollektiv.

Mit welcher Selbstverständlichkeit sie auf dem Platz und in der Öffentlichkeit auftritt, ist bemerkenswert. Dass sie mit Almuth Schult, Sara Däbritz, Lina Magull, Svenja Huth und Kapitänin Alexandra Popp bei den DFB-Frauen den Mannschaftsrat bildet, passt ins Bild. "Meine Rolle hat sich dahingehend verändert, dass ich mehr den Mund aufmachen kann und neben den anderen eine kleine Leaderin bin", sagt sie. Bei der WM in Frankreich erzählte Lena Oberdorf noch, ihr großes Glück sei, dass sie gar nicht realisiere, bei so einem Ereignis dabei zu sein. Das Pech ihrer Gegnerinnen ist nun, dass sich nichts an ihrer Spielweise verändert hat, seit sie versteht, was um sie herum alles passiert.

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