Bevor Alexander Straus wissen konnte, wie einer seiner wichtigsten Arbeitstage des Jahres enden würde, wollte er eine Sache klarstellen. Er schaue sich Tabellen erst wirklich an, wenn nur noch drei Partien in einer Saison übrig seien, sagte er. Ob der Trainer der Fußballerinnen des FC Bayern das tatsächlich so handhabt oder die Aussage im übertragenen Sinn meinte, ein bisschen kokettierend angesichts der Rangfolge in der Bundesliga, blieb offen. Aber inzwischen ist wohl davon auszugehen, dass Straus seiner Regel eine Ausnahme gegönnt hat - und er den Blick auf die Tabelle sehr genießt.
Seit Samstag hat sein Team sieben Punkte Vorsprung auf den VfL Wolfsburg, nach dem 4:0 (0:0)-Sieg gegen den Dauerrivalen. Sieben Punkte. Bei noch fünf ausstehenden Bundesliga-Spieltagen. Was soll da denn noch schiefgehen bei der Titelverteidigung? Straus könnte einwenden: Na, jede Menge kann da noch passieren! Das stimmt. Aber selbst VfL-Coach Tommy Stroot rechnet nicht mehr damit: "Ich glaube, dass es sehr, sehr unrealistisch ist, dass Bayern sich das noch nehmen lässt. So ehrlich bin ich." Und er wiederum kokettierte sicherlich nicht mit dieser Aussage.
Frauen-Bundesliga:"4:0 mit so einer Leistung, das ist überragend"
Die Fußballerinnen des FC Bayern gewinnen das Spitzenspiel beim VfL Wolfsburg - zum ersten Mal seit mehr als 15 Jahren. Damit dürften die Münchnerinnen in der Meisterschaft kaum noch aufzuhalten sein.
Seit Oktober 2008 hatten die Wolfsburgerinnen kein Heimspiel gegen den FC Bayern verloren. So gut wie jede Serie reißt einmal, aber dieser Fall könnte in ein paar Jahren für mehr stehen als nur eine beendete Erfolgsreihe, nämlich dafür, dass hier ein neuer Zyklus begonnen hat. Dass sich also das Kräfteverhältnis vom Norden tatsächlich in den Süden verschieben könnte nach Jahren der Wolfsburger Dominanz. Auch darum ging es an diesem Tag. Wenngleich das Ergebnis nach Toren der Ex-Wolfsburgerin Pernille Harder (48. Minute), der deutschen Nationalspielerinnen Klara Bühl (57.) und Lea Schüller (76.) sowie von Georgia Stanway (87.) eindeutiger wirkt, als es dem gesamten Spielverlauf entsprach.
"Der Sieg bedeutet eine Menge für uns", sagt Bayern-Trainer Alexander Straus
Die erste Hälfte war noch ausgeglichen gewesen. Nach der Pause schlossen die Münchnerinnen ihre Konter effizient ab. Dabei überforderten sie ihre Gegnerinnen bisweilen mit ihrer Geschwindigkeit, Finesse und Präzision - was auch daran lag, dass der VfL spätestens nach dem ersten Gegentor mehr Risiko eingehen musste. Als beispielsweise Harder dem ersten Impuls widerstand, mit rechts abzuschließen, und stattdessen die Abwehr irritierte, indem sie den Ball hinter ihr Standbein zog und dann mit links traf. Oder als Bühl einen Eckball direkt verwandelte.
Das zeugte von großem Selbstvertrauen, das wiederum durch diese Momente vor den 24 437 Zuschauern in der Volkswagen-Arena noch gewachsen sein dürfte. Schüller stellte jedenfalls fest: "Wenn wir uns nicht dumm anstellen, sollten wir das jetzt easy über die Bühne bringen."
Alexander Straus und jeder seiner Spielerinnen war die enorme Erleichterung anzusehen, die diese drei Punkte mit sich brachten. Ob nun die unmittelbare Freude über einen Auswärtssieg in diesem seit Jahren hart umkämpften Duell überwog oder die Erkenntnis, dass die Meisterschaft nun ziemlich wahrscheinlich entschieden ist: An der Einschätzung an sich änderte das nichts. "Der Sieg bedeutet eine Menge für uns", befand der Norweger, dessen Team nun seit saisonübergreifend 34 Ligaspielen ungeschlagen ist. Giulia Gwinn sagte am TV-Mikrofon: "Das 4:0 ist sehr, sehr schön und extrem emotional im Moment", die Situation fühle sich "ein wenig surreal an".
"Wir haben im Trainingslager viel aufgearbeitet", erzählt Giulia Gwinn
In dieser Emotionalität erinnerte sie an eine Maßnahme, die mitentscheidend gewesen sein dürfte für den aktuellen Erfolg. Im Dezember hatte es nicht gerade danach ausgesehen, als hätten die Münchnerinnen gute Aussichten auf eine erfolgreiche Saison. Sie spielten remis gegen Ajax Amsterdam in der Gruppenphase der Champions League sowie in der Liga gegen den Abstiegskandidaten 1. FC Nürnberg. Das Rückspiel gegen Ajax verloren sie. Verunsicherung prägte das Auftreten, die Bundesliga führte Wolfsburg an. In der Winterpause aber folgte die Rehabilitation. "Wir haben im Trainingslager viel aufgearbeitet. Gerade was die Kommunikation angeht", erzählte Gwinn am Samstag. "Und man merkt schon, wie die eine für die andere einsteht. Wie man versucht, sich bestmöglich auf dem Platz zu helfen."
Das Gefüge wirkte danach stimmiger, als seien ein paar Gelenke eingerenkt worden, die vorher von Blockaden beeinträchtigt waren. Das änderte zwar nichts daran, dass die Bayern (wie auch Eintracht Frankfurt und der VfL) aus der Königsklasse flogen. Aber während die Wolfsburgerinnen inklusive des direkten Duells drei Mal in der Liga verloren, patzten die Münchnerinnen dort nicht und profitieren davon nun in Form eines dicken Punktepolsters, das ihnen bald auch rechnerisch die insgesamt sechste Meisterschaft bringen dürfte. "Jetzt heißt es, genau in diesem Stil weiterzumachen", sagte Klubpräsident Herbert Hainer. "Das ist der Weg zur erfolgreichen Titelverteidigung."
Ob diesem stolzen Verein dann in ein paar Jahren auch im Frauenfußball eine Erfolgsära wie dem VfL mit zwei Champions-League-Titeln, sieben Meisterschaften und zehn Pokalsiegen gelungen sein und die aktuelle Phase wirklich für eine Wende stehen wird? Vielleicht wird das Gerede darum schon bald wieder leiser - oder aber auch lauter: Am Ostersonntag trifft der FC Bayern im Pokal-Halbfinale auf Frankfurt, einen Tag zuvor spielt Wolfsburg gegen die SGS Essen. Im Finale könnten sich VfL und FCB wiedersehen. Ein einziges Mal, 2012, haben die Münchnerinnen diesen Wettbewerb gewonnen - die Wolfsburgerinnen seit 2015 ununterbrochen. Das Finale in Köln ist für sie wie ein Heimspiel.