Die Mottenbekämpfung ist so eine Geschichte in St. Moritz. Es gibt in der Via Maistra einen Laden, der in großen gelben Lettern auf blauem Grund für die Pelzübersommerung im Kühlhaus wirbt. "Wir bieten die ideale Sommerpflege für Ihre Pelz- und Lammfell-Garderobe ..." steht da. "Mottenbekämpfung ohne Chemie", versteht sich. Und: "In vollklimatisierten Räumen" sowie: "Tiefkühlung bei -20 Grad Celsius".
Wenn Pia Ochsner das Plakat sieht, ähneln die Furchen auf ihrer Stirn den Gletscherspalten des Piz Corvatsch, der sich im Hintergrund erhebt. "Solche Probleme sollte ich mal haben", sagt Ochsner: "Das ist doch genau das St. Moritz, das wir nicht zeigen wollen. Aber das in den Köpfen all der Touristen aus Deutschland existiert, die viel Privatfernsehen schauen."
Pia Ochsner ist in der 5500-Einwohner-Gemeinde geboren und aufgewachsen, sie ist Hausfrau und Mutter einer dreijährigen Tochter, sie trägt Jeans, Turnschuhe und eine rote Ski-Jacke. Die 34-Jährige ist der Gegenentwurf zur Geld-Fürstin im Pelzmantel, die in den Luxusboutiquen in der Via Serlas shoppen geht und sich von RTL2 interviewen lässt. Sie schwärmt von einem anderen St. Moritz: von diesem malerischen Ort im Oberengadin, von der wilden Natur, der guten Luft, den Seen, den Bergen ringsherum.
Sie spricht nicht über Pferderennen. Oder über Schauspieler, die hier Champagner trinken und in Hotels einchecken, die aussehen wie eine Mischung aus Burg und Schloss und in denen nur eine Nacht 18 000 Franken kosten kann. Ochsner kennt zwar all das Abgehobene in ihrem Heimatort, aber sie findet es entsetzlich: die Hybris der Superreichen, das Künstliche, die Gier der Hoteliers nach der Maximierung ihres Gewinns. "Viele wissen gar nicht, wie schön es hier im Engadin ist", sagt Ochsner und erzählt, wie für sie ein perfekter Nachmittag aussieht: "Mit den Langlaufskiern von Pontresina das Val Roseg hochlaufen."
So die Seitentäler zu entdecken oder über die schneebedeckten Seen zu gleiten, ist im Winter auch bei Touristen beliebt. Deshalb wirbt Hugo Wetzel für "die Gesamtheit des Wintersports im Engadin". Wer einen Aktivurlaub erleben möchte, kann neben Langlaufen und Skifahren auf der Corviglia auch mit dem Schlitten oder einem Bob die Natureisbahn in Celerina hinabsausen. Dieser weitere Fokus soll dem Direktor der Tourismusorganisation Engadin/St. Moritz helfen, neue und jüngere Touristen ins Hochtal zu locken.
St. Moritz muss man sich leisten können - nicht nur bei den Hotels
Wetzel kennt sich mit Wintersport aus: Bei der alpinen Ski-Weltmeisterschaft 2017 in St. Moritz war er Chef des Organisationskomitees. Die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen den Hoteliers und Ladenbesitzern auf der einen Seite und Einheimischen wie Pia Ochsner auf der anderen sind ihm nicht verborgen geblieben. Er hofft, dass es der WM nachhaltig gelingt, "Pelzmantel und Skijacke zu versöhnen". Denn St. Moritz hat an Anziehungskraft verloren.
Seit 2005 zählte St. Moritz insgesamt 192 000 Übernachtungen weniger, knapp 20 Prozent. Allein 2015 gab es einen Rückgang von etwa sieben Prozent. Das könnte man mit der Schwäche des Schweizer Franken erklären und auch ein wenig mit Russen, die lieber in Sotschi am Schwarzen Meer Ski fahren als in Europa. Aber: Andere Skiorte, auch in der Schweiz, gewinnen Hotelgäste hinzu. Mit einfallsreichem Marketing und Crowdfunding-Aktionen reagieren sie auf den starken Rückgang von Übernachtungen und verkauften Skipässen. Zum Beispiel Davos, das allein im Januar mehr als 6000 zusätzliche Übernachtungen verzeichnen konnte, ein Plus von fast sieben Prozent.
Den Glanz des sonst so mondänen St. Moritz trüben die tristen Bilder geschlossener Ladenlokale. Die Quadratmeterpreise betrage exorbitante Summen, die sonst nur bei Monopoly gefordert werden. 25 diese Ladenlokale stünden leer, hat im Sommer die Engadiner Post gemeldet. Stirbt der Nobelskiort St Moritz?, fragte das Nachrichtenportal Watson.
Das ist natürlich übertrieben, die schmucken Läden in der Fußgängerzone glänzen weiterhin und sorgen für ein großstädtisches Flair im kleinen Dorf. Aber wer durch die engen Gassen spaziert, muss nicht lange suchen, um die leeren Räume hinter schmutzigen und undekorierten Schaufenstern zu finden, um die sich seit Monaten niemand mehr gekümmert hat.
"Top of the world" wirbt ein selbstbewusster Slogan für St. Moritz - aber schöne Sprüche oder die mehr als 300 Sonnentage reichen nicht mehr. Hotelpage Michael kann sich noch genau an die fetten Jahre Anfang dieses Jahrzehnts erinnern. An die Russen, die sich eine komplette Ski-Ausrüstung gekauft haben, bevor sie eincheckten: Ski, Stiefel, Unterwäsche, Overall. "Und bei der Abreise alles im Zimmer liegen gelassen haben", erzählt er. Michael arbeitet in einem der teuersten Hotels in St. Moritz.
Er will seinen vollständigen Namen nicht in einem deutschen Medium lesen, "da kriege ich nur Ärger mit meinem Chef." Dabei klingt es so, als habe der Page die Sätze seines Vorgesetzten auswendig gelernt: "Wir dürfen uns nicht nach den Massen richten, sondern müssen dafür sorgen, dass weiter die reichen Leute zu uns kommen, für die Geld überhaupt keine Rolle spielt." Sein Chef träume beispielsweise davon, fügt Michael hinzu, auf dem See ein Kricketturnier auszurichten. Eine gute Gelegenheit, um den Pelzmantel auszuführen.
Pia Ochsner kann sich mit solchen Ideen nicht anfreunden. Sie habe gar nichts gegen die Superreichen, meint sie, und St. Moritz müsse sich ja nicht neu erfinden. "Aber eine Auffrischung würde uns allen gut tun, damit sich das Dorfbild mehr vermischt", sagt sie. Auch Tourismusdirektor Wetzel wünscht sich, dass ein jüngeres Publikum und Familien die Vorzüge dieses Hochtals für sich entdecken. Allerdings müssen sie sich das leisten können.
Wie ankommen gegen das günstige Österreich?
"Wir werden deshalb in den nächsten Jahren vermehrt Hotels bauen mit ein, zwei und drei Sternen", berichtet er, "mit bezahlbaren und vernünftigen Preisen." Bisher gibt es nur eine Jugendherberge in St. Moritz Bad, aber gerade preiswert ist sie nicht. Ein Vier-Bett-Familienzimmer mit Dusche/WC kostet 216 Franken aufwärts, also etwa 200 Euro, ohne Abendessen. Ob die neuen, erschwinglicheren Hotels angenommen werden, bezweifelt aber nicht nur Hotelpage Michael. Die Schweizer haben gegenüber ihrem Hauptkonkurrenten einen Wettbewerbsnachteil. "Die Preise in St. Moritz dürften höher liegen als bei vergleichbaren Hotels in Österreich", fügt der Page hinzu. Allein mit der Schönheit der Natur und den vielfältigen und anspruchsvollen Pisten- und Loipenkilometern lässt sich dieser Nachteil nicht aufwiegen.
Noch fehlen in St. Moritz zudem die nötigen Investoren für günstigere Hotels. Es dürfte deshalb noch einige Jahre vergehen, bis die ersten Häuser stehen. Vielleicht kommt sogar eher die ersehnte Abfahrt hinunter ins Tal. St. Moritz ist von seinen Bergen und ihren Skigebieten abgeschnitten - ein weiterer Standortnachteil. Da ist Pia Ochsner sogar mal einer Meinung mit den Hoteliers und Ladenbesitzern: Diese wünschen sich genau wie sie seit vielen Jahren eine Talabfahrt.