Warum bloß geht einem dieser verflixte Ohrwurm nicht aus dem Kopf? Nein, nicht der türkisfarbene Kunststoff-Pfropfen im Ohr, der die Körpergeräusche der Zimmergenossen dämpfen soll. Sondern Helene Fischers "Atemlos durch die Nacht"? Das Ohropax ist nötig, denn die Bergsteiger im Doppelstockbett nebenan schnarchen so perfekt im Rhythmus eines Hitparadensongs, dass man sich bei der heftigen Sägerei ernsthaft Sorgen machen muss um die schönen neuen Holzmöbel. Aber warum dieses schlimme Lied?
Vielleicht ist es einfach die Höhe, die einen atem- und schlaflos macht. Die Hörnlihütte liegt auf 3260 Meter. Dazu noch der Vollmond und die atemberaubende Aussicht auf das Matterhorn im Silberlicht. Der Einstieg zum Hörnligrat ist 100 Meter hinter der Hütte. 90 Prozent der Bergsteiger, die auf den wohl berühmtesten Berg der Alpen wollen, versuchen es über diese Route.
Für Gipfelträume ist in warmen Julinächten aber nicht viel Zeit. Kaum hat man trotz Ohrwurm, dünner Luft und Mondlicht etwas Schlaf gefunden, geht um Punkt 3.30 Uhr das Licht an, und Kurt Lauber, der Hüttenwirt, ruft fröhlich ins Zimmer hinein: "Guäta Morgä!"
"Man muss eine Linie haben als Hüttenwirt, sonst geht man unter"
Die Gipfelaspiranten müssen an diesem Morgen nicht extra eingeladen werden, viele haben kein Auge zugetan und stehen schon um drei Uhr parat, fertig angezogen mit Klettergurt und Stirnlampe auf dem Kopf. Kurt Lauber bleibt aber bei seinem Fahrplan, so präzise wie die Schweizer Bahn. "Wake up call 3.30, start not before 3.50" steht auf einem großen roten Schild im Frühstücksraum. Damit keiner behaupten kann, er wisse nicht genau, wie spät es ist, hängen überall riesige Uhren von Tissot an der Wand, einem der Sponsoren der Hütte.
Die Tür zur Terrasse bleibt abgeschlossen, bis Punkt 3.50 Uhr, dann dürfen zuerst die Zermatter Bergführer mit ihren Gästen los, danach die übrigen Schweizer Bergführer, anschließend ausländische Bergführer, und dann erst die Amateure ohne Bergführer. "Man muss eine Linie haben als Hüttenwirt, sonst geht man unter", sagt Kurt Lauber. Er ist ein freundlicher Mensch, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass seine Regeln befolgt werden sollten, das war in der alten Hütte so, und das wird auch in der neuen so sein.
Historische Hörnlihütte wurde fast komplett abgerissen
Seit 1. Juli hat die neue Hörnlihütte geöffnet, und bis auf die harten Tür-Regeln ist so ziemlich alles anders als auf der alten Hütte. Das alte Berghaus "Belvedere" und die Hörnlihütte wurden in den vergangenen zwei Jahren fast komplett abgerissen, zu einem Gebäude zusammengefasst und kurz vor dem 150. Jubiläum der Matterhorn-Erstbesteigung neu eröffnet.
Gestaltet wurde die moderne Bergunterkunft vom Zermatter Architekturbüro Arnold/Perren/Zurniwen. Mit der historischen Hörnlihütte, die 1880 als nicht bewirtetes Lager mit 17 Pritschen eröffnete und seitdem immer wieder um- und ausgebaut wurde, hat das Gebäude nur noch wenig zu tun. Anstelle von 170 Schlafplätzen gibt es jetzt nur noch 130 Plätze, statt der alten 20er-Lager stehen Achter-, Sechser-, Vierer- und Zweierzimmer zur Verfügung.
Echte Federbetten statt durchgelegener Matratzen
Durch die Panoramascheiben blickt man auf den Matterhorngipfel, das Breithorn, das Monte-Rosa-Massiv. Alles ist hell und luftig, Möbel aus massivem Eschenholz, viel Platz auf den Gängen und in den Bädern. Statt durchgelegener Matratzen und kratziger Wolldecken stehen echte Federbetten zur Verfügung.
Neu ist auch das Reservierungssystem. Wer auf der Hütte übernachten will, muss sich spätestens drei Tage vorher anmelden - und 50 Franken Reservierungsgebühr bezahlen. Erscheint der Gast nicht, verfällt der Betrag, wenn er kommt, wird das Geld verrechnet. Damit will man die Auslastung optimieren - und verhindern, dass Leute kurzfristig absagen.
"Die Matterhorn-Preise sind der Gipfel!"
Die Luft kann einem allerdings nicht nur wegen der Höhe, sondern auch wegen der Preise wegbleiben. Eine kleine Flasche Wasser kostet sieben Franken. Zwei Minuten Duschen - macht fünf Franken. Eine Nacht im Mehrbettzimmer inklusive Abendessen, Frühstück und Marschtee: 150 Franken, ein Zweibettzimmer mit eigener Dusche 450 Franken. Bisher musste man 80 Franken für die Übernachtung zahlen.
Eine Matterhornbesteigung ist ohnehin ein kostspieliges Unterfangen: Für die Tour mit einem Bergführer muss man etwa 1200 Franken rechnen, plus Übernachtungskosten. Hinzu kommt noch die Übernachtung für den Bergführer - die bezahlt auch der Gast. "Die Matterhorn-Preise sind der Gipfel!" empörte sich das Boulevardblatt Blick. In Bergsteiger-Foren ist von "Abzocke" die Rede.
Puristen werden auf "Luxushütten" wie die neue Hörnlihütte schimpfen, vor allem wegen der Preise. Zudem sorgt die verschärfte Politik gegen Wild-Camper für Unmut: Campieren und Biwakieren oberhalb einer Höhe von 2880 Meter am Matterhorn sind unter Androhung von 5000 Franken Buße strengstens verboten. Das war bislang schon so, doch wurde das Campieren geduldet. Damit ist jetzt Schluss. Faktisch besitzt die Hörnlihütte somit das Monopol am "Horu". Wenn jemand dagegen verstößt, ruft der Hüttenwirt die Polizei, die dann per Helikopter anschwirrt.
In der Bergsportcommunity Hikr.org gehören Kommentare wie "bodenlose Sauerei" und "Frechheit" noch zu den harmloseren. Für viele ist die Preisanpassung jedenfalls ein Grund, auf den Hüttenbesuch zu verzichten. Und eine Grundsatzfrage zu stellen: Darf man den Zugang zu einem Berg reglementieren, noch dazu über den Preis? Sind die Berge, also auch das Matterhorn, nicht für alle da, auch für Alpinisten, die sich nicht 1500 Franken für einen Besteigungsversuch leisten können oder wollen?
Zu viele Besucher, zu viel Stress
"Wir mussten da etwas tun", sagt Benedikt Perren, Präsident der Zermatter Bergführer, "es waren einfach zu viele Leute am Berg." Mehr als 200 Bergsteiger versuchten sich an manchen schönen Sommertagen am Matterhorn, in der gesamten Saison sind etwa 3000 Menschen am Berg unterwegs. Das führt zu Stress, zu Staus, zu riskanten Situationen. Die meisten Verletzungen am Hörnligrat gibt es durch Steinschlag, ausgelöst von Seilschaften weiter oben.
Durch das neue Konzept, so hoffen die Zermatter, werden in Zukunft höchstens 50 Zweier-Seilschaften pro Tag am Hörnligrat unterwegs sein. Und das Camping-Verbot werde von der Gemeinde auch deshalb durchgesetzt, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass die Wild-Camper mit ihren Ausscheidungen und dem Müll das Grundwasser und somit die Wasserversorgung der Hütte verseuchen. Die jetzige Lösung, so Kurt Lauber, sei "das Beste für die Natur und die Menschen".
"Die Preise müssten sogar doppelt so hoch sein"
Hüttenwirt Kurt Lauber verteidigt das Reservierungssystem und die Preisgestaltung nicht nur, er setzt noch eins drauf: "Betriebswirtschaftlich ist das noch zu wenig. Um rentabel zu arbeiten, müssten die Preise sogar doppelt so hoch sein." Der Neubau der Hütte hat 8,5 Millionen Franken gekostet, die Saison dauert nur von Anfang Juli bis Ende September. Die Kosten für Energie, Wasser und Belieferung sind in dieser exponierten Lage extrem hoch.
Alles muss mit dem Hubschrauber transportiert werden, erst seit diesem Jahr gibt es eine ordentliche Wasserversorgung. Bis das alles finanziert ist, müssen tatsächlich sehr, sehr viele Gäste kommen. Da erscheint es sinnvoll, dass die Hörnlihütte, die früher zur Hälfte dem Schweizer Alpen-Club und der Gemeinde Zermatt gehörte, in eine Stiftung überführt wurde.
Lauber, der seine 21. Saison als Wirt auf der Hörnlihütte verbringt, ist optimistisch, dass das Konzept funktioniert. In den ersten Tagen nach der Eröffnung geht es auf der neuen Hörnlihütte noch relativ ruhig zu. Trotz Traumwetters und guter Bedingungen am Hörnligrat sind nur 20 bis 30 Gäste pro Nacht angemeldet, dazu kommen noch die Tagesgäste, die zweieinhalb Stunden von Schwarzsee aus hochsteigen, um dem Matterhorn so nah wie möglich zu kommen und die neue Hütte zu besichtigen.
Hat Helene Fischer doch über das Matterhorn gesungen?
Immer mehr Wanderer wollen auch auf der Hütte übernachten, ein Trend, der sich ebenso auf der Monte-Rosa-Hütte oder auf der Goûter-Hütte am Montblanc zeigt: Die Leute kommen nicht mehr ausschließlich, um von der Hütte auf einen Gipfel zu steigen, sondern auch wegen der Hütte selbst. "Trotzdem soll die Hörnlihütte eine Bergsteigerhütte bleiben", betont Kurt Lauber, "darauf werden wir achten."
Auf dem Fundament der alten Hütte gibt es jetzt einen Helikopterlandeplatz, sonst ist nichts mehr übrig. Außer ihrem Geist, der im Wesentlichen von Kurt Lauber getragen wird, dem "Wächter des Matterhorns", wie ein Buch von ihm heißt. Generationen von Bergsteigern haben auf der alten Hörnlihütte atemlos Nächte durchwacht und auf den Moment gewartet, an dem es endlich losgeht in Richtung Gipfel. Vielleicht hat Helene Fischer doch über das Matterhorn gesungen? "Atemlos - einfach raus. Atemlos - schwindelfrei. Komm wir steigen auf das höchste Dach dieser Welt."