Das Politische Buch:Von der Kraft der Distanz

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Der U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlin-Mitte. Der Straßenname ist schon seit Langem in der Diskussion wegen seiner Herkunft. (Foto: Regina Schmeken/Regina Schmeken)

Der Historiker Martin Sabrow analysiert die Krisen seiner Disziplin und erklärt, warum sich die Zeitgeschichte nicht gegenwartsbezogenen Maßstäben unterwerfen sollte.

Rezension von Robert Probst

Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird seit der Kanzlerrede vom 27. Februar 2022 als "Zeitenwende" tituliert. Seither wird gern auf die SPD und ihre Ostpolitik seit Willy Brandt eingeschlagen, als hätte Putins Überfall bereits 1972 seinen Ausgang genommen. Und was auch noch der Kampf gegen "Mohrenstraßen" und "Mohrenapotheken" damit zu tun hat, das erklärt Martin Sabrow in einem kleinen, sehr lesenswerten Essay über "Zeitenwenden in der Zeitgeschichte".

Sabrow, von 2004 bis 2021 Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, hat im Juli 2022 seine Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität gehalten (und für das Buch auch noch bis Frühjahr 2023 aktualisiert). Das Thema Zäsuren und Wendepunkt treibt ihn schon lange um. Und so ist sein Vortrag auch ein Ritt durchs 20. Jahrhundert mit theoretischen Überlegungen und ein paar historischen Tupfern auf die tatsächlichen Zäsuren 1918, 1933, 1945 und 1989. Besonders die Betrachtung über die Ostdeutschen, die alsbald der "diktaturbezogenen Befreiungserzählung" eine "Verweigerungserzählung" entgegenstellten, lohnt einen genauen Blick. Sabrows These vom "nationalen Sonderstolz" über das Ende des SED-Staats hinaus bietet durchaus Erkläransätze für den Erfolg der AfD in Ostdeutschland.

Nicht jede ausgerufene Zeitenwende war auch eine

Er erinnert aber auch daran, dass vieles, was einst als Zeitenwende empfunden wurde, bald wieder vergessen war, etwa die Notstandsgesetze, die Einführung des Euro, die EU-Osterweiterung 2004 oder auch die Furcht vor dem neuen Jahrtausend.

Im Kern geht es aber um die Krisen und Herausforderungen der Forschungsdisziplin Zeitgeschichte. Und davon gibt es viele: Da wäre die "innere Auszehrung" der opferzentrierten Geschichtskultur; da wäre die "Routine einer historischen Selbstberuhigung" durch die ständige Reproduktion von Opfererzählungen aus der NS-Zeit und dem Holocaust; da wäre nicht zuletzt die "Trivialisierung der kathartischen Kraft der historischen Aufklärung".

Und da wäre - und hier sind wir wieder bei den "Mohren" - die "zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation". Gemeint ist damit eine Angleichung der Vergangenheit an die Normen der Gegenwart - womit bedauerlicherweise einhergeht, dass der Vergangenheit ihre Andersartigkeit schlicht aberkannt wird. Sabrows Plädoyer, dass es "die vornehme Aufgabe der Zeitgeschichte bleibt, der Gegenwart zu dienen, indem sie sich ihrer noch so gut gemeinten Indienstnahme zu entziehen sucht", könnten sich Gesellschaft und Medien und einige wenige Fachkolleginnen durchaus zu Herzen nehmen.

Martin Sabrow: Zeitenwenden in der Zeitgeschichte. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 88 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro (Foto: Wallstein-Veralg)
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