Interview am Morgen: 20 Jahre Verdi:"Wir sind längst noch nicht am Ziel"

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Frank Werneke, 53, ist gelernter Verpackungsmittelmechaniker - und seit September 2019 Verdi-Chef. (Foto: Christoph Soeder/picture alliance/dpa)

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wird 20 Jahre alt. Ihr Chef Frank Werneke über Erfolge und Enttäuschungen - und darüber, was er noch vorhat.

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SZ: Herr Werneke, an diesem Freitag wird Verdi 20. Haben Sie für die Feier auch eine Trauerzeremonie eingeplant?

Frank Werneke: Nein, es wird ein politisches, aber insgesamt fröhliches Format, in diesen Tagen leider per Livestream. Warum Trauerzeremonie?

Wegen der 800 000 Mitglieder, die Verdi seit der Gründung 2001 verloren hat.

Richtig, wir haben Mitglieder verloren. Aber wir gewinnen auch jedes Jahr neue Menschen für uns. Die meisten der zwei Millionen Mitglieder, die Verdi heute hat, sind in den letzten 20 Jahren eingetreten.

Unterm Strich bleibt ein dickes Minus. Wie erklären Sie sich das? Hat Ihr Vorgänger Frank Bsirske, der Verdi bis 2019 leitete, Fehler gemacht?

Die Mitgliederverluste der Gewerkschaften haben nicht mit der Gründung von Verdi begonnen. Die fünf Gewerkschaften, aus denen Verdi 2001 entstanden ist, hatten in den 1990er-Jahren eine wirklich harte Zeit hinter sich: Es war die erste Phase der Globalisierung, Arbeitsplätze wurden ins Ausland verlagert. Das hat in einer ganzen Reihe von Branchen zu massiven Arbeitsplatzverlusten geführt, insbesondere in Ostdeutschland. Hinzu kam die Spar- und Privatisierungswelle im öffentlichen Dienst oder bei der damaligen Bundespost. All das hatte zu Mitgliederrückgängen geführt, die sich 2001 nach der Verdi-Gründung zunächst auch ungebrochen fortgesetzt haben.

Also hat Verdi doch Fehler gemacht?

Niemand ist frei von Fehlern. Immerhin ist es gelungen, in den Jahren nach der Gründung die Mitgliederverluste Schritt für Schritt zu minimieren. Gleichzeitig war das politisch eine heftige Zeit. 2003 hat Gerhard Schröder die Agenda 2010 verkündet, der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, es gab viel mehr Leiharbeit und befristete Anstellungsverhältnisse. Die Menschen bekamen noch mehr Angst davor, ihren Job zu verlieren und damit in Hartz IV zu rutschen.

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Das hat die Gewerkschaften enorm geschwächt und führte zu einer Reihe von völlig unzureichenden Tarifabschlüssen. Denn Angst wirkt sich negativ auf die Streikbereitschaft aus, und ohne Streikbereitschaft gibt es keine guten Abschlüsse. In der Folge der Agenda-Politik kam es zu einer massiven Kontroverse zwischen der noch jungen Verdi und der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Heute haben wir wieder gute Eintrittszahlen. Jeden Monat entscheiden sich acht- bis zehntausend Menschen für uns, und das in wichtigen Berufen, etwa im Gesundheits- und Erziehungswesen.

Wegen Corona arbeiten viele Menschen zu Hause und sind im Betrieb schwer zu erreichen. Bedroht das Gewerkschaften?

Das ist eine Herausforderung, die Situation ist aber nicht neu für uns. Auch vor der Pandemie gab es viele Menschen, die von zu Hause oder von unterwegs gearbeitet haben; ich denke an die Beschäftigten von Telekommunikationsunternehmen oder Kundendiensten. Wir haben es geschafft, sie anzusprechen und zu überzeugen. Aber klar, durch die Corona-Pandemie mussten wir einen Sprung machen. Verdi findet heute viel mehr im Internet statt als noch 2019. Weit über die Hälfte aller Mitglieder gewinnen wir online. In der Vernetzung liegt eine Chance: Wir machen Townhall-Meetings mit Tausenden Teilnehmern; in Präsenz könnten wir das mit so vielen Beteiligten gar nicht organisieren.

Geschlossene Läden und Firmen in Kurzarbeit sind aber schwer zu bestreiken

Ja, das stimmt, leider. Streiks und andere sichtbare Aktionen sind gerade kompliziert, aber möglich. Wir streiken derzeit beispielsweise bei der Servicegesellschaft der Deutschen Bank oder in der Verpackungsindustrie. Auch "Stay at home"-Streiks entfalten ihre Wirkung.

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Die Politik muss uns nicht helfen, Mitglieder zu gewinnen, das machen wir schon selbst. Aber ich wünsche mir, dass die Kräfteverhältnisse in der Arbeitswelt wieder ins Lot kommen. Nach der verheerenden Agenda-Politik ist es zwar gelungen, wieder etwas mehr Gerechtigkeit durchzusetzen. Aber wir sind längst noch nicht am Ziel. Menschen werden ohne Sachgrund befristet eingestellt und müssen Angst haben, wenn sie einen Betriebsrat gründen wollen. Die Politik vergibt weiterhin öffentliche Aufträge an Firmen, die Dumpinglöhne zahlen. Außerdem ist es immer noch sehr schwierig zu erreichen, dass ein Tarifvertrag für alle Firmen verbindlich gilt.

Gerade ist Ihr Versuch gescheitert, einen Tarifvertrag mit hohen Mindestlöhnen für alle Altenpfleger verbindlich zu verankern. Warum erkämpfen Sie dies nicht durch Streiks? Sind Pflegekräfte zu selten gewerkschaftlich organisiert?

In der Altenpflege herrscht eine brutale Wettbewerbssituation, das ist von den privaten Pflegekonzernen so gewollt. Wir haben dort schon bessere Bedingungen erstritten, aber wenn wir das von Haus zu Haus erkämpfen müssen, würde das Jahre dauern. Deswegen ist eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung der bessere Weg, und ich glaube nicht, dass das für immer gescheitert ist. Im Moment fehlt zwar die Zustimmung von Caritas und Diakonie. Aber das kann sich ändern.

20 Jahre Verdi - was war der beste Erfolg, worauf hätten Sie verzichten können?

Verzichten können hätte ich, ich habe das schon erwähnt, vor allem auf die Agenda-Politik. Zu den Erfolgen: Wir haben es geschafft, für die Menschen in den Dienstleistungsberufen von der Pflege über die Paketzustellung bis zur Kulturwirtschaft eine gemeinsame, starke Stimme zu organisieren. Der größte Erfolg ist für mich in diesem Zusammenhang die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns.

Den hat aber die SPD beschlossen, nicht Verdi, oder?

Es muss am Ende eine Regierung geben, die die Gesetze auf den Weg bringt. Gesellschaftlich durchgesetzt haben wir den Mindestlohn - zusammen mit der Gewerkschaft NGG - gegen viele Widerstände und zumindest am Beginn der Debatte auch gegen Vorbehalte in der Gewerkschaftsfamilie und in der SPD.

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