Egon Zill aus Plauen war 35, Schutzhaftlagerführer im Konzentrationslager Dachau, und stolz auf seine Rolle beim Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen. Auch SS-Oberscharführer Sebastian Eberl. "Morgen haben wir wieder Schützenfest", freute er sich, wenn es zum zwei Kilometer entfernten "SS-Schießplatz Hebertshausen" ging.
Zwischen Ende August 1941 und Sommer 1942 wurden dort mehr als 4000 Rotarmisten erschossen - die Täter: 190 Angehörige des Kommandanturstabs und weitere Männer der Wachmannschaften der Lager-SS. Kaum einer der Täter musste sich nach 1945 vor Gericht verantworten. Egon Zill schon. Er wurde 1955 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, nach acht Jahren aber bereits entlassen. Seinen Lebensabend verbrachte er bis zu seinem Tod 1974 in Dachau.
Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, beschreibt Prägungen und Verhaltensmuster der Täter dieses Verbrechens in dem jetzt erschienenen Begleitband zur Ausstellung des Gedenkorts am ehemaligen SS-Schießplatz, die vor Jahren, im Mai 2014, eröffnet worden ist.
Vernichtungskrieg im Osten:"Die Wehrmacht war an allen Verbrechen beteiligt"
Historiker Christian Hartmann schildert die Arbeitsteilung zwischen SS und der Wehrmacht bei Massenmorden an der Ostfront.
Das Warten hat sich gelohnt. Die Herausgeberinnen, Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, und Andrea Riedle, haben sieben Aufsätze versammelt, die ein lange Zeit verdrängtes Kapitel der Lokalgeschichte erzählen - und viel mehr.
Am Beispiel des Dachauer Verbrechens werden die historischen Zusammenhänge des von den Nationalsozialisten gewollten und geplanten Massenmords an Sowjetsoldaten ausgeleuchtet. Der ehemalige SS-Schießplatz - er war einer der zentralen Exekutionsorte auf deutschem Reichsgebiet - steht für die Geschichte des leugnenden Umgangs mit einem völkerrechtswidrigen Verbrechen seit 1945. Von 5,7 Millionen Sowjetsoldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft starben mehr als drei Millionen durch Hunger, Folter und bei Erschießungen.
Im Kalten Krieg gerieten diese Opfer in Vergessenheit - wie die Tatorte. Anja Deutsch und Kerstin Schwenke schreiben über den langen Weg zur Gestaltung des Erinnerungsortes, der nach Jahrzehnten der Verwilderung und Überbauung fast aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht worden war.
Die Erinnerung daran verdankt sich in den Anfängen allein zivilgesellschaftlichem Engagement. Andrea Riedle weist nach, dass die Erschießungen ein "offenes Geheimnis" waren - die Dachauer trotz gegenteiliger Behauptungen sehr wohl davon gewusst hatten.
Am 22. Juni 1941 begann der Überfall, der Millionen Menschen das Leben kostete
Der Historiker Dirk Riedel vom NS-Dokumentationszentrum München führt in das Netz der Zusammenarbeit von Reichssicherheitshauptamt, Gestapo und Wehrmacht. "Vernichtungskrieg in den Gefangenenlagern der Wehrmacht": Zwei Wochen vor dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ordnete das Oberkommando der Wehrmacht in konsequenter Umsetzung der antibolschewistischen und antislawischen NS-Politik die Ermordung aller politischen Kommissare der Roten Armee sofort nach der Gefangennahme an.
Gestapo und Wehrmacht wählten in der Folge die Kriegsgefangenen in den Lagern aus, die zur Erschießung in Konzentrationslager verschleppt wurden: Kommissare, Juden, "Intelligenzler", aber auch wahllos Herausgegriffene. Das liest sich wie ein Nachtrag zu den beiden Wehrmachtsausstellungen, die mit der Legende von der "sauberen Wehrmacht" bereits 1995 und 2004 aufgeräumt hatten.
Herzstück des Buches aber sind die Biografien von neun Opfern und einem Überlebenden der Dachauer Massaker. Für die Gedenkinstallation "Ort der Namen" sind bis jetzt ungefähr eintausend Opfer identifiziert worden - die schwierige, noch laufende Recherche beschreibt Reinhard Otto eindringlich.
Die Historikerin Gabriele Hammermann lenkt den Blick auf die Perspektive der Opfer. Ihr Aufsatz besticht dadurch, dass er ihnen, fußend auf einer Vielzahl von Dokumenten, ein Gesicht und eine Stimme gibt; ein Beispiel für eine "integrierte Geschichte" (Saul Friedländer) der Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft.
Wie, fragt man sich nach der Lektüre, kann es sein, dass dieses brutale Verbrechen noch heute nicht wirklich ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist? Natürlich: der antikommunistische Konsens in den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts, heute die Annexion der Krim, die politischen Spannungen im Verhältnis zu Putins Russland.
Insofern trug sich vor fünf Jahren, zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945, Ungewöhnliches zu. Joachim Gauck verneigte sich vor dem Leid sowjetischer Soldaten. Mit solcher Deutlichkeit hatte noch kein Bundespräsident gesprochen: Als "eines der größten deutschen Verbrechen" bezeichnete Gauck auf Schloss Holte-Stukenbrock den millionenfachen Mord an kriegsgefangenen Rotarmisten.
Der Band erzählt von verdrängter Lokalgeschichte, aber auch von großer Politik
Doch zum 75. Jahrestag des Kriegsendes war seinem Nachfolger Frank-Walter Steinmeier die Rote Armee kein Wort wert. Eine Vermengung von Gedenken und Tagespolitik verbietet sich aber. Erinnerungspolitik ist dem humanitären Anliegen verpflichtet, die Opfer von Gewaltherrschaft aus dem "Erinnerungsschatten" (Joachim Gauck) zu holen.
Dafür steht die Gedenkstätte "SS-Schießplatz" mit ihrer Installation in Dachau. Das verdeutlicht auch dieser Band. Der Historiker Götz Aly hat einmal gesagt, dass Deutschland wenig Verständnis für die Opfer der Roten Armee in deutscher Kriegsgefangenschaft zeigt, auch für die Opfer der Sowjetunion insgesamt. Die Hälfte der 27 Millionen Toten waren Zivilisten.
Mehr als 13 Millionen Frauen, Kinder und Greise wurden von Wehrmacht und SS systematisch vernichtet - in einem rassistisch motivierten Krieg gegen die "slawischen Untermenschen". Die Auseinandersetzung damit ist längst noch nicht zu Ende - aber das Buch von Gabriele Hammermann und Andrea Riedle bringt sie voran.