EU-Beitritt der Ukraine:"Wir sollten keine falschen Hoffnungen schüren"

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"Nicht jetzt bei der Ukraine mit einem völlig anderen Maß messen" als bei Staaten des Westbalkans, die seit Jahren in die EU wollen: Michael Roth, SPD, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. (Foto: Ute Grabowsky/imago)

Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, plädiert dafür, die Ukraine zum Beitrittskandidaten zu machen. Doch er stellt klar: Es dürfe für das Land keine Abkürzung in die EU geben.

Interview von Paul-Anton Krüger, Berlin

Michael Roth, 51, ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, dem er seit 1998 als direkt gewählter Abgeordneter der SPD angehört. Von 2013 bis zum Regierungswechsel im vergangenen Jahr war er Staatsminister im Auswärtigen Amt für Europa.

Herr Roth, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat einen Antrag zu Aufnahme in die EU unterzeichnet und in einer aufwühlenden Rede vor dem Europaparlament für ein spezielles, beschleunigtes Verfahren geworben. Und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gesagt, die Ukraine gehöre zu Europa und solle aufgenommen werden. Wie sehen Sie das?

Die Ukraine hätte sicher die Ehrenmitgliedschaft in der Europäischen Union verdient. Aber wir sollten keine falschen Hoffnungen schüren, die dann in Enttäuschungen münden. Die Europäische Union sollte der Ukraine eine Beitrittsperspektive eröffnen und ihr einen Kandidatenstatus verleihen. Aber wir sollten auch klarmachen: Das ist kein kurzer oder schmerzfreier Weg, sondern einer, der weitreichende politische und wirtschaftliche Reformen erfordert, Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von Korruption. Es ist auch deutlich geworden, dass bislang nicht alle 27 Mitgliedstaaten die Haltung von Frau von der Leyen teilen, wie es erforderlich wäre.

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Von Florian Hassel

Also kein Express-Beitritt, wie Selenskij ihn sich wünscht, sondern eines fernen Tages, der vielleicht nie eintritt?

Lippenbekenntnisse alleine helfen der Ukraine nicht. Eine Beitrittsperspektive wäre schon ein sehr großer Sprung für die Ukraine. Die EU muss insgesamt mit Blick auf mögliche Erweiterungen ehrlicher und konkreter werden, und wir müssen das in einen konstruktiven Prozess lenken. Das heißt auch, dass wir nicht die Länder des Westbalkans aus den Augen verlieren dürfen...

... also Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo.

Denen hat die EU schon 2003 beim Gipfel in Thessaloniki einen Beitritt in Aussicht gestellt - viele sind der Mitgliedschaft nicht entscheidend nähergekommen. Und das liegt auch an der EU und ihren Mitgliedern, nicht nur an mangelnden Fortschritten bei den Reformen. Ihnen gegenüber muss man fair bleiben und nicht jetzt bei der Ukraine mit einem völlig anderen Maß messen.

2014 hat sich Russland ja noch gegen das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine gewendet. Birgt eine Beitrittsperspektive für Kiew nicht vor allem Risiken für die EU, zumal im Vertrag von Lissabon ja auch Beistandspflichten definiert sind?

Präsident Wladimir Putin hat sich bei all seinen schändlichen Vorwänden für den Krieg zuletzt nie gegen die EU geäußert. Putin geht es doch sowieso nicht um die Nato oder die EU, sondern darum, die Landkarte Europas neu zu zeichnen. Aber die EU sollte sich auch nicht von Russland vorschreiben lassen, ob sie den Weg der Erweiterung fortsetzen will. Sie wird sich allerdings überlegen müssen, wie sie mit anderen Staaten Osteuropas umgehen will, etwa mit Moldau oder Georgien. Eine EU-Perspektive könnte der Ukraine zugleich andere Schritte erleichtern. Die EU teilt jetzt schon eine lange Grenze mit Russland, daran würde sich durch eine Aufnahme der Ukraine nichts ändern.

Sie haben die Westbalkan-Staaten genannt. Sind die schleppenden Fortschritte nicht eher ein Zeichen, dass der Prozess nicht zum versprochenen Ziel führt und vielleicht gar nicht im Interesse der EU ist?

Leider haben zuletzt nicht alle Mitgliedstaaten im gleichen Maße daran Interesse gezeigt. Das hat verschiedene Gründe. Bulgarien hat jetzt zwei Jahre lang mit Argumenten aus der Historie Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien blockiert. Frankreich und Niederlande sind grundsätzlich eher skeptisch. Aber wenn wir die enttäuschende Instabilität in der Region sehen, dann muss endlich allen EU-Staaten klar sein, dass es im ureigenen Interesse der EU sein muss, hier aktiv entgegenzuwirken. Die Bundesregierung sollte bei unseren Partnern weiter dafür werben und sich selbst dafür einsetzen, die wirtschaftliche Kooperation und die politische Unterstützung für Reformen auszubauen.

Welche Gefahren sehen Sie, wenn das nicht geschieht?

Dann werden Nationalisten und Populisten in der Region weiter erstarken. Autoritäre Regime wie Russland und China werden weiter das Vakuum zu füllen versuchen, das die EU hinterlässt. Dann können sich die Probleme in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ganz schnell wieder bis an den Rand eines Krieges verschärfen. Wir sehen das gerade in Bosnien-Herzegowina, wo der Serben-Führer Milorad Dodik mit Rückendeckung aus Moskau mit einer Abspaltung der Republika Srpska liebäugelt. Die Regierung in Belgrad bestärkt ihn darin. Und sie hat sich bislang nur halbherzig von Putins Angriffskrieg in der Ukraine distanziert. Sie könnte sich ermutigt fühlen, ebenfalls Grenzen neu zu ziehen. Wir müssen viel entschiedener als bislang den Menschen im Westbalkan deutlich machen, dass die europäische Perspektive für sie vielversprechender ist, als ein Rückfall in die verheerenden Zeiten der Kriege vor 30 Jahren.

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