Krieg in der Ukraine:Baerbock reist nach Kiew und sichert langfristige Unterstützung zu

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Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), trifft mit dem Zug zu einem geheim gehaltenen Besuch in der ukrainischen Hauptstadt ein. (Foto: Oliver Weiken/dpa)

Zum vierten Mal besucht die Außenministerin die Ukraine. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen die EU-Beitrittsperspektive, Vorbereitungen auf den Winter - und die von Russland entführten Kinder.

Von Paul-Anton Krüger, Kiew

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist am Montagmorgen zu einem aus Sicherheitsgründen zuvor nicht angekündigten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew eingetroffen. Es ist ihre vierte Reise in das Land, seit Russland vor 565 Tagen erneut seinen Nachbarn überfallen hat. "Jeden Tag neues Grauen, jeden Tag neues Leid und Tod. Das ist Tag für Tag die schonungslose Realität der Menschen in der Ukraine", sagte Baerbock bei ihrer Ankunft.

Zuletzt war sie im Januar hier gewesen, hatte Charkiw besucht, die Großstadt im Osten, in Reichweite der russischen Raketen, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Von dem Besuch in Kiew nun soll die Botschaft ausgehen, dass Deutschland auf lange Sicht verlässlich an der Seite der Ukraine steht, das Land politisch, wirtschaftlich, aber auch militärisch unterstützt.

Die Ukraine könne sich darauf verlassen, dass "wir die Erweiterung der EU als notwendige geopolitische Konsequenz aus Russlands Krieg begreifen" sagte Baerbock. Deswegen werde die Bundesregierung Kiew auf dem Weg in die Europäische Union "entschlossen unter die Arme greifen". Den Kandidatenstatus hat die Ukraine, jetzt gelte es, die Entscheidung über die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen vorzubereiten. Darüber könnten die Staats- und Regierungschefs bereits beim Europäischen Rat im Dezember beraten. Baerbock hat zudem angekündigt, in Berlin eine Konferenz auszurichten, bei der es um die nötigen Veränderungen in der EU gehen soll, damit diese in der Lage ist, die Ukraine aufzunehmen und darüber hinaus die Republik Moldau und die Westbalkanstaaten.

Kampf gegen Korruption zentral für EU-Beitritt

Baerbock lobte Anstrengungen der Regierung von Präsident Wolodimir Selenskij bei der Reform der Justiz und der Mediengesetzgebung. Da könne sich "die Bilanz schon sehen lassen". Bei der Umsetzung des Anti-Oligarchen-Gesetzes und dem Kampf gegen Korruption gelte es aber noch einen Weg zu gehen. Jüngst hatte Selenskij Verteidigungsminister Oleksij Resnikow durch Rustem Umjerow ersetzt, bisher Leiter des Privatisierungsfonds der Ukraine. Resnikow war zwar persönlich kein Fehlverhalten angelastet worden, in seinem Verantwortungsbereich aber hatte es immer wieder Korruptionsskandale gegeben.

Mit ihrer Mahnung ruft Baerbock in Erinnerung, dass für einen Beitritt zur EU eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen - und dabei auch die Ukraine keinen Rabatt erwarten kann, sondern die nötigen Reformen umsetzen muss. Zwar hat Selenskij angekündigt, Korruption in Kriegszeiten wie Hochverrat bestrafen zu wollen. Sowohl in der Ukraine als auch bei deren westlichen Partnern gibt es aber Sorgen, dass der Präsident wichtige Fälle dem ihm unterstellten Geheimdienst SBU übertragen will und damit ein Mangel an Transparenz einhergeht und die mit der Korruptionsbekämpfung betrauten Behörden geschwächt werden.

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Während politisch die Perspektive auf einen EU-Beitritt für die Ukraine von enormer Bedeutung ist, muss sie sich kurzfristig auf einen weiteren Kriegswinter einstellen - und wie bereits im vergangenen Jahr massive und gezielte Angriffe der Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf ihre zivile Infrastruktur, vor allem die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung. Man wolle deswegen das Energienetz mit der Ukraine noch engmaschiger knüpfen, kündigte Baerbock an. Sie warf Putin "schrecklichen Terror" gegen die Zivilbevölkerung vor. Putin wolle damit die Menschen brechen, entmutigen und zermürben. In den vergangenen Tagen hatten die russischen Truppen eine große Zahl von Drohnen und Raketen auf Kiew und eine Reihe anderer Städte gefeuert.

Bitte nach Marschflugkörpern bleibt unerfüllt

Die Ukraine hat in den vergangenen Tagen zwar Fortschritte und kleinere Geländegewinne sowohl im Osten als auch bei der Sommeroffensive im Süden gemeldet, die zum Ziel hat, die russischen Nachschublinien über die Halbinsel Krim zu unterbrechen. Nach Einschätzung von General Mark Milley, dem Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, bleiben der ukrainischen Armee allerdings nur zwischen 30 und 45 Tage, bis schlechtes Wetter die Kampfhandlungen und Geländegewinne erschweren könne. Es sei aber noch zu früh, zu sagen, ob die Offensive gescheitert sei.

Selenskij sagte dem Economist, er stelle sich auf einen langen Krieg ein. Er deutet aber an, dass er bei manchen der westlichen Partner der Ukraine Zweifel hege, ob diese auf Dauer das Land militärisch unterstützen oder ihn doch zu Verhandlungen mit Russland drängen wollten. Es sei ein "schlechter Zeitpunkt für Diplomatie", sagte Selenskij weiter.

Er bekräftigte in anderen Äußerungen, dass er mit US-Präsident Joe Biden über die Lieferung von ATACMS-Kurzstreckenraketen mit 300 Kilometern Reichweite sprechen wolle. Es wurde nicht erwartet, dass Baerbock eine Zusage für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern aus Beständen der Bundeswehr mit nach Kiew bringt. Die Ukraine hat um diese Waffen gebeten, die bis zu 500 Kilometer weit reichen. Kanzler Olaf Scholz ist dem bisher aber nicht nachgekommen und lässt eine Begrenzung der Reichweite prüfen.

Verschleppte Kinder sollen UN beschäftigen

Baerbock wollte mit ukrainischen Offiziellen zudem über die Verschleppung Tausender Kinder durch die russischen Besatzer sprechen. Die Kinder würden in russische Umerziehungslager deportiert oder in Russland zur Adoption freigegeben. "Die Berichte über extreme Gehirnwäsche, mit der russische Stellen den Kindern jede Brücke zu ihren Familien und ihrer Heimat zertrümmern, brechen mir das Herz", sagte sie. Deutschland unterstütze die ukrainischen Behörden und Organisationen, die sich dafür einsetzen, die verschleppten Kinder wieder nach Hause zu bringen.

Diese Verbrechen müssten aufgearbeitet werden, forderte Baerbock. Dafür sei die Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof ein wichtiger Beitrag. Die Verschleppungen sollen auch bei der UN-Generalversammlung in New York thematisiert werden, die in einer Woche beginnt. Auch eine Delegation afrikanischer Staats- und Regierungschefs, die jüngst die Ukraine und Russland besucht hatten, verlangten von Putin die Rückgabe der Kinder. Westliche Diplomaten hoffen daher, in dieser Frage stärkeren Druck auf den Kreml aufbauen zu können.

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