Im Minutentakt gingen sie ein: Die Berichte über Angriffe auf Sommerfeste, Attacken auf der Straße und im Bus, Berichte über Gaspistolen und ausgeschlagene Zähne, Bomberjacken und die Angst vor der Dunkelheit. Im Oktober 2019 sammelten sich unter dem Hashtag "baseballschlägerjahre" Erinnerungen an die Normalität rechter Gewalt in den frühen 1990er-Jahren. Es waren sehr konkrete, brutale Geschichten, manche knapp, manche ausführlich, bedrückend, schwer zu ertragen. Kaum eine davon hatte Folgen für die Angreifer, nur in den allerwenigsten Fällen hatten sich Polizei und Justiz ernsthaft damit beschäftigt oder gar ein besonderes Interesse am Schutz der Opfer gehabt. Die "baseballschlägerjahre" waren deshalb auch Jahre eines bitteren Staatsversagens, das so gar nicht zum bundesrepublikanischen Selbstverständnis passen will - und wenn überhaupt primär als "ostdeutsches Problem" gedeutet wurde.
"Brandspuren" - der kluge Sammelband, den die beiden Historiker Till Kössler und Janosch Steuwer zusammengestellt haben, erzählt eine andere, vergessene Geschichte. Die Autorinnen und Autoren richten ihren Blick auf die vielen Orte der Gewalt, im Osten, aber auch im Westen. Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind dafür nur die prominentesten und traurigsten Beispiele, aber die Liste ist länger, viel länger - und damit ist auch die Zahl der Opfer höher, viel höher. Und so geht es auch um Flensburg, Wuppertal und Kempten, um Obhausen und Neustrelitz, vor allem auch um die Kontinuitäten rechter Gewalt vor und nach 1989. Denn zu den Lebenslügen der "Berliner Republik" gehört, dass rassistische Gewalt allein die Sache einer vom Vereinigungsprozess verunsicherten Jugend gewesen sei. Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Jüdinnen und Juden, gegen Obdachlose und Punks, prägte schon die vermeintlich so idyllische "Bonner Republik", die von konservativen Historikern gerne als romantischer Sehnsuchtsort verklärt wird.
Die Beiträge fragen nach der Geschichte der "Pädagogik gegen rechts", sie untersuchen verschiedene Erscheinungsformen der organisierten Rechtsextremisten in Ost und West und sie analysieren die Rolle der Polizei sowie die Erfahrungen unterschiedlicher Opfergruppen. Deutlich wird, wie sehr die unterschiedlichen Erklärungsmuster rechter Gewalt in den 1990er-Jahren Teil zeithistorischer Konflikte und politischer Kämpfe waren. Auch wenn es ein paar wenige Doppelungen gibt, so ist der Band doch wichtig für eine sich erneuernde Zeitgeschichte, die sich stärker als zuvor für eine Geschichte des Rassismus und der unterschiedlichen Erfahrungen der Vereinigungsjahre öffnet.
Stimmen migrantischer Opfer fehlen nach wie vor
Eindringlich schildert etwa Stefan Zeppenfeld die schmerzhaften Anerkennungskämpfe migrantischer Opfer rechter Gewalt seit den 1980er-Jahren. Deutlich wird, wie sehr diese Stimmen immer noch fehlen, in der öffentlichen Debatte, aber auch mit Blick auf das historische Gedächtnis der Bundesrepublik. Zeppenfeld beschreibt die Versuche (auch die Denunziation) migrantischer Selbstverteidigung, wie sie beispielsweise nach den Anschlägen von Solingen entstanden. Er erinnert an Proteste in Berlin im Sommer 1993, als türkische Geschäfte für eine Stunde ihre Ladentüren schlossen und plakatierten: "Wir fordern mehr Sicherheit. Wir fordern gleiche Rechte."
Insofern ist die Geschichte rechter Gewalt unmittelbar verbunden mit den zähen Debatten um die Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft. Wie im besten Fall hilflos deutsche Behörden mit den Gewalterfahrungen umgingen, lässt ein Infoblatt erahnen, das das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt 1993 verteilte. Darin informierte die Polizei, wie sich Menschen auf mögliche Brandanschläge vorbereiten sollten: Man sollte auf sein "Umfeld" achten, die Eingangstüren nicht offenlassen, beim Einbruch der Dunkelheit die Vorhänge zuziehen und: "Lassen Sie sich nicht provozieren."
Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.