Noch so ein Gedenkakt, dreißig Jahre danach? Die Menschen in den roten Sesseln des Pina-Bausch-Saals von Solingens Theater spüren schnell, dass es Frank-Walter Steinmeier an diesem Nachmittag um mehr geht. Streng, fast unduldsam klingt die Stimme des Bundespräsidenten. Er will nicht nur erinnern, er fordert Lehren ein aus den Morden. "Gedenken gestalten" steht als Motto an der Wand.
Gleich zu Beginn seiner Rede ruft Steinmeier die Namen der drei Mädchen und zwei jungen Frauen in den Saal. Vielen der 600 Zuhörer sind sie bekannt, viele stammen aus Solingen, haben deutschen, türkischen oder kurdischen "Hintergrund". Eine Frau mit Kopftuch in der hinteren Reihe spricht stumm mit, als der Präsident erinnert, wer beim Brandanschlag am 29. Mai 1993 in der Unteren Wernerstraße ermordet wurde: "Wir trauern um Gürsün İnce, um Hatice Genç, um Gülüstan Öztürk, um Hülya Genç, um Saime Genç." Vier Jahre alt war Saime, die Jüngste; Gürsün, die Älteste, wurde 27. Vier junge Männer waren ins Haus der Familie Genç eingedrungen, hatten Benzin ausgegossen, Feuer gelegt. Das Bild der Ruine ging um die Welt.
Nur, Steinmeier nennt an diesem Pfingstmontag nicht nur die Namen der Todesopfer. Er wird dem Verbrechen einen Namen geben: "Terror."
Der Präsident hat seinem Publikum kurz zuvor erklärt, warum er dies tut: Weil er sich dem Erbe einer Frau verpflichtet fühle, die vorigen Oktober verstarb: Mevlüde Genç, die Mutter, Großmutter und Tante der fünf Ermordeten, die nach dem Anschlag zur Versöhnung aufgerufen hatte. Jene Frau, die 1994 beim Strafprozess gegen die Attentäter auf die Frage des Richters nach ihrem Alter geantwortet hatte: "Ich bin 51, aber mein Herz ist 90. Ich bin eine lebende Leiche."
Vor Solingen gab es das Oktoberfest-Attentat, danach die Morde des NSU
Steinmeier kannte Mevlüde Genç persönlich. Er bewunderte sie als eine Frau, "für die Nächstenliebe und Menschlichkeit stärker waren als der Hass". Aber, so fügt Steinmeier hinzu, Mevlüde Genç habe immer wieder gefordert, "den Dingen auf den Grund zu gehen". Und sie habe verlangt, "dass unsere gesamte Gesellschaft hart gegen Rechtsextremismus, Hass und Gewalt vorgeht - allen voran die staatlichen Institutionen".
Solingen, so Steinmeier, sei eben kein deutscher Einzelfall. Vorher habe es schon 1980 das Oktoberfest-Attentat gegeben. Er nennt Hoyerswerda und Mölln, Halle und Hanau, auch die Morde des NSU, "vor 1993 und nach 1993."
Fast unerbittlich klingt der Bundespräsident, als er einen Mythos zerschlägt: Viel zu lange sei die Bundesrepublik "der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung aufgesessen, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben". Einzelfälle eben. Steinmeier geht den Dingen auf den Grund: "Das gesellschaftliche Umfeld, die Strukturen dahinter und die Ideologie der Täterinnen und Täter wurden lange übersehen, ignoriert, teils auch verdrängt. Ich spreche von Rechtsextremismus. Von Rassismus. Von Menschenfeindlichkeit."
Das Hassen und Morden hatten also System. "Rechtsextreme und Rassisten verbreiten Angst und Schrecken unter all jenen, die zu Opfern werden könnten", sagt Steinmeier. "Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen. Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer Gewalt in unserem Land."
Innenministerin Faeser (SPD) kritisiert die damalige CDU-geführte Bundesregierung
Tim Kurzbach, der sozialdemokratische Oberbürgermeister, weiß, dass seine Heimatstadt seit jenem Pfingstsamstag anno 1993 zum Synonym für ein hässliches Deutschland geworden ist. Aber, so versichert Kurzbach, seine Stadt habe gelernt - vor allem von "Mutter Mevlüde". Deshalb, so hat er als Vorredner von Steinmeier beteuert, habe seine Stadt "eine besondere Verantwortung angenommen - den Kampf gegen Rassismus, auch stellvertretend für die ganze Bundesrepublik". Am Sonntag hat Solingen einen Platz im Zentrum zum Mevlüde-Genç-Platz umgetauft; dort und am Tatort stehen nun Stelen mit Bildern der Opfer. Sie sollen nicht gesichtslos bleiben.
Nur Gesten? Die Solinger hoffen so zu helfen, dass nie wieder wuchert, was Steinmeier am Montag "den braunen Nährboden" des Anschlags nennt. Die frühen Neunzigerjahre beschreibt er als eine "Zeit der polarisierten und hasserfüllt geführten Debatte um Asylpolitik". Bezüge zu heute stellt er hier nicht her.
An das damalige Klima hatte am Wochenende auch Innenministerin Nancy Faeser erinnert, die im Theatersaal in der ersten Reihe sitzt. Die damalige, CDU-geführte Bundesregierung, so sagte die SPD-Politikerin in einem Interview, habe vor Solingen "nicht mit aller Klarheit und Deutlichkeit gehandelt, um den mörderischen Rechtsextremismus zu stoppen". Und nach den Taten habe "das Mitgefühl, die Empathie" für die Opfer gefehlt - eine Anspielung darauf, dass ein Regierungssprecher bereits nach dem Anschlag in Mölln die Nicht-Teilnahme von Bundeskanzler Helmut Kohl an Trauerfeiern mit der Bemerkung gerechtfertigt hatte, man wolle nicht "in Beileids-Tourismus ausbrechen".
Was also tun? Im letzten Viertel seiner Rede will der Bundespräsident mit Worten eine Brücke bauen aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Weshalb der Präsident nun jene Institution kritisiert, deren Oberhaupt er ist: Er fordert einen starken Staat, nur so seien Versöhnung und Zusammenhalt der Gesellschaft möglich: "Es braucht zuallererst einen wehrhaften, einen wachsamen, einen aufrichtigen Staat", sagt Steinmeier. Der Staat müsse "besonders diejenigen schützen, die ein höheres Risiko haben, zum Opfer zu werden". Das, was der Staat bisher tue, genüge nicht: "Dafür muss er alles, dafür muss er noch mehr tun!"
Steinmeier fordert klare Kante von jedem in Deutschland, überall: an der Bushaltestelle, in der Schule, am Stammtisch - wo immer Hass oder Hetze aufflammt: "Wir brauchen Zivilcourage und Mut!"