Um 1:42 Uhr war bei der Solinger Feuerwehr der Notruf eingegangen: Alarm, Untere Wernerstraße 81, vielleicht ein Zimmerbrand. Der Zimmerbrand war aber kein Zimmerbrand, sondern ein mörderisches Inferno - das bis dahin größte ausländerfeindliche Verbrechen der Nachkriegszeit.
Ein dreigeschossiges Haus brannte lichterloh; auf der Straße wimmerten Verletzte. Hinter dem Dachgeschossfenster im schwarzen Qualm stand eine junge Frau, 27, mit zwei Kindern. In Verzweiflung warf sie eines in die Tiefe. Ein Feuerwehrmann versuchte, das Mädchen aufzufangen; es rutschte ihm durch die Arme und fiel in eine Grube; es hat überlebt. Dann sprang die junge Frau. Noch im Sturz presste sie die kleine Güldane fest an die Brust. Die Frau schlug mit dem Rücken auf eine Grubenkante und war auf der Stelle tot. Das Kind, durch den Körper der Mutter geschützt, blieb am Leben.
Unter Schuttbergen fand die Feuerwehr drei verkohlte Leichen. Hatice Genç, 18 Jahre, Gülistan Öztürk, zwölf Jahre, Saime Genç, vier Jahre. Hülya Genç, neun Jahre, war schon vorher tot im Erdgeschoss aufgefunden worden. So hat der Reporter Hans Leyendecker damals den Mord-Morgen des 29. Mai beschrieben.
Dies geschah am Pfingstsamstag 1993, drei Tage nach Änderung des Asylgrundrechts im Bundestag; damit sollte, wie es hieß, den Rechtsextremisten "das Wasser abgegraben" und die Gewalt gegen Ausländer eingedämmt werden. Die fünf Morde von Solingen waren der Höhepunkt einer grausamen Serie von Verbrechen, die seit Ende 1990 immer dichter geworden war.
20. Jahrestag des Brandanschlags:Solingens Nacht des Entsetzens
In der Nacht zum 29. Mai 1993 legen Neonazis im Haus der Familie Genç in Solingen Feuer. Fünf Menschen sterben, die Tat wird zum Symbol für die fremdenfeindlichen Exzesse im jungen wiedervereinigten Deutschland. Auch 20 Jahre danach sind Erinnerungen an die schreckliche Tat präsent.
Eine Auswahl: In Eberswalde wird der angolanische Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa totgeprügelt. In Dresden werfen Skinheads Jorge Gomodai aus der Straßenbahn, der Mosambikaner stirbt. In Wittenberg werden zwei Namibier aus dem vierten Stock ihrer Unterkunft gestürzt. In Friedrichshafen wird ein Flüchtling aus Angola erstochen. Brandanschlag auf eine Unterkunft in Saarlouis, ein Ghanaer stirbt. Tagelange gewalttätige Belagerung der Unterkünfte von Flüchtlingen und Gastarbeitern in Hoyerswerda; sie werden unter Polizeischutz aus der Stadt geschafft. Angriffe auf Ausländerheime in zahlreichen Städten. Brandanschlag in Hünxe, zwei libanesische Kinder schwer verletzt. Überfall auf einen Vietnamesen in Berlin-Hellersdorf, er liegt tagelang im Koma.
Deutsche Flüchtlingshelfer bringen siebzig Asylbewerber zum Schutz in einer Kirche bei Hamburg unter. Was tut die Polizei? Sie ermittelt wegen des Verdachts auf "politisches Kidnapping" gegen die Helfer. Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Hörstel; ein dort untergebrachter Deutscher stirbt. Im brandenburgischen Wendisch-Rietz schlagen Rechtsradikale einen Flüchtling bewusstlos und werfen ihn in den Scharmützelsee. Im baden-württembergischen Ostfildern stirbt ein Kosovo-Albaner bei einem Überfall auf ein Wohnheim. August 1992: Sprengsatz gegen ein jüdisches Mahnmal in Berlin. Tagelanger Pogrom gegen Ausländer in Rostock-Lichtenhagen. Nachahmertaten in ganz Deutschland. Im KZ Sachsenhausen wird eine Baracke abgefackelt. In Frankfurt/Oder wird ein Flüchtling erstochen. In Dolgenbrodt geht ein Heim für Asylbewerber vor der Eröffnung in Flammen auf. In Mölln fallen drei türkische Frauen einem Brandanschlag zum Opfer. Brandstiftungen im ganzen Land folgen.
Erste Lichterkette in München am 6. Dezember 1992
In München formiert sich am 6. Dezember 1992 die erste einer ganzen Reihe von Lichterketten in deutschen Städten: Die Menschen protestieren gegen Ausländerhass. In Bonn freilich formiert sich an eben diesem Tag eine große politische Koalition zur Abschaffung des bisherigen Asylgrundrechts. Die Vereinbarung, die an diesem Tag von CDU/CSU, SPD und FDP geschlossen wird, heißt "Nikolaus-Kompromiss". Je massiver die Anschläge geworden waren, umso schwächer war die Verteidigung des Grundrechts geworden.
Im August 1991 sagte der damalige bayerische Innenminister Edmund Stoiber, dass das Asylrecht zu einem "abstrakten Grundrecht", zu einem Gnadenrecht werden müsse, weil sonst "rechtsradikale Organisationen Aufwind bekommen". Die Bevölkerung sei vor einer "totalen Überforderung" durch Flüchtlinge zu schützen.
Die Angst vor den "Flüchtlingsmassen" wurde politisch so gefördert, wie früher die Angst vor dem Kommunismus gefördert worden war; das Asylgrundrecht wurde zum Symbol für die angebliche "Überfremdung" gemacht, und die Zerschlagung des Symbols als Abhilfe angekündigt. Immer mehr Politiker redeten von Flüchtlingen im Katastrophenjargon; je mehr Ausländerheime brannten, umso mehr "Asylschwindler" gab es. 1998 bekannte dann der frühere nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor (SPD), der 1993 seinen langen Widerstand gegen die Grundgesetzänderung aufgegeben hatte, dass die Politik "eine Art Beihilfe zur Stärkung der Gewalt" geleistet habe: "Wenn junge Menschen erleben, wie Politik über Flüchtlinge und über Ausländer spricht, dann muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche diese verbale Gewalt in brutale Gewalt übersetzen."
FDP und SPD schwenkten 1992/93 auf den Anti-Asyl-Kurs der Union ein - zumal die Zahl der Asylanträge 1992 auf 438.191 gestiegen war (unter anderem wegen des Kriegs im zerfallenden Jugoslawien). Der Anti-Asyl-Kurs mündete in der Änderung des Asylgrundrechts, drei Tage vor den Solinger Morden. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: "Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch."
20. Jahrestag des Brandanschlags:Solingens Nacht des Entsetzens
In der Nacht zum 29. Mai 1993 legen Neonazis im Haus der Familie Genç in Solingen Feuer. Fünf Menschen sterben, die Tat wird zum Symbol für die fremdenfeindlichen Exzesse im jungen wiedervereinigten Deutschland. Auch 20 Jahre danach sind Erinnerungen an die schreckliche Tat präsent.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts versuchten im Sommer 1993, trotz der Asylrechtsänderung, Abschiebungen im Einzelfall zu stoppen; etliche Male ließen sie Flüchtlinge noch kurz vor dem Abtransport aus dem Flugzeug holen. Damals erlebten die Karlsruher Richter, wie die Asyldebatte funktioniert. Als ein Massenblatt Hysterie über die richterlichen Entscheidungen geschürt hatte, konnten sich die Richter die Ernte aus dem Postfach holen: pöbelnde Briefe des Inhalts, dass sie "Hunde" seien, denen man den "Schädel einschlagen" solle.
Der Prozess gegen die vier Täter von Solingen dauerte 18 Monate. Es zeigte sich dabei, was sich später bei ausländerfeindlichen Anschlägen immer wieder zeigte: Fehler über Fehler der Ermittlungsbehörden. Das Gericht stand vor einem Abgrund von Dilettantismus: Gesprächsprotokolle waren nicht geführt, Brandschutt war nicht gesichert worden; es gab keine Sachbeweise, keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Dem Kompetenzgerangel zwischen örtlicher Polizei und Bundeskriminalamt waren die simpelsten Ermittlungsgrundsätze zum Opfer gefallen.
Und noch etwas erinnert in Solingen an das spätere Desaster bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU: Ein V-Mann des Verfassungsschutzes spielte schon 1993 eine Rolle. Der Leiter einer Kampfsportschule, die bis zum Brandanschlag Treffpunkt für Rechtsradikale war, galt als führende Figur im braunen Milieu Solingens und war Vertrauensmann des Landesverfassungsschutzes.
Weizsäcker sprach sich für doppelte Staatsbürgerschaft aus
V-Leute und kein Ende: Es ist, als habe sich diesbezüglich in zwanzig Jahren wenig geändert. Anderes hat sich geändert. Es ist heute unvorstellbar, dass sich ein Spitzenpolitiker nach einem Mordanschlag so verhält, wie sich damals Helmut Kohl verhalten hat: Er weigerte sich, an der Trauerfeier teilzunehmen. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verwies auf die "weiß Gott anderen wichtigen Termine", des Kanzlers. Man wolle schließlich nicht "in Beileidstourismus ausbrechen".
Trauermärsche forderten das Verbot rechtsradikaler Organisationen und die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Bundespräsident Richard von Weizsäcker gab den Forderungen bei einer Trauerfeier recht. Es gehe darum, den türkischen Bürgern in Deutschland das Gefühl zu nehmen, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Zwanzig Jahre später wird immer noch über die doppelte Staatsbürgerschaft gestritten: Mit 23 Jahren müssen sich nach geltendem Recht junge Menschen mit ausländischen Wurzeln entscheiden, ob sie den deutschen oder den ausländischen Pass zurückgeben. Das verkennt die Bedeutung der Staatsbürgerschaft. Sie ist ein Integrationsturbo. Der Integrationsgipfel, zu dem Kanzlerin Merkel am Dienstag in Berlin geladen hatte, wäre eigentlich der geeignete Ort gewesen, diesen Turbo laufen zu lassen. Aber Merkel besteht noch immer darauf, den Integrationsturbo abzuschalten, wenn die jungen Leute 23 Jahre alt sind. Ist das der Gipfel?