Dalia Grybauskaitė fühlt sich von den westlicheren EU-Ländern nicht ernst genommen. "Wir versagen erneut bei der Abschreckung Russlands", sagte die frühere litauische Präsidentin vergangene Woche an der Universität in Vilnius. Grybauskaitė will mehr und entschiedenere Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland - und dadurch mehr Sicherheit für ihr eigenes Land. Dazu gehört für sie eine Zusage, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird. Diese Zusage sollte es aus ihrer Sicht auf dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli geben.
Immerhin: US-Präsident Joe Biden sagte in einem am Sonntag ausgestrahlten Interview mit dem Sender CNN, sein Land sei bereit, der Ukraine in der Zeit zwischen Kriegsende und einem möglichen Nato-Beitritt einen ähnlichen Schutz zu bieten wie Israel. Eine Schutzgarantie des Westens also, allerdings nur im Fall eines Waffenstillstands und eines Friedensabkommens. Die USA unterstützen Israel jährlich mit 3,5 Milliarden Euro für Militärtechnik.
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"Natürlich wird es eine Antwort geben", sagte der russische Präsident bei einer Lagebesprechung. Der Autoverkehr auf der Brücke läuft offiziellen Angaben zufolge wieder. Die Ukraine meldet einen großangelegten russischen Angriff im Nordosten des Landes.
Was Biden in Aussicht stellt, ist bemerkenswert
Bidens Äußerung ist bemerkenswert, erfüllt aber nicht, was auch das estnische Parlament am Wochenende forderte: "Wir erwarten, dass der Nato-Gipfel die Ukraine zum Beitritt einlädt und konkrete Schritte formuliert, die dem Land eine schnelle Integration in die Nato ermöglichen würden." Das Land sähe so auch seine eigene Sicherheit am besten geschützt.
Die russische Aggression könne noch Jahrzehnte andauern, sagte die Litauerin Grybauskaitė, ebenfalls am Wochenende, der Nachrichtenagentur AP. Das Aufnahmeverfahren müsse nun eingeleitet werden, "denn das Warten auf das Ende des Krieges ermöglicht es Putin, ihn niemals zu beenden." Die Ex-Präsidentin Litauens betonte, dass die mittel- und osteuropäischen Länder die Gefahr, die von Russland ausgehe, viel besser verstünden.
Das scheint auch Wolodimir Selenskij so zu sehen. Seinen polnischen Amtskollegen Andrzej Duda sah der ukrainische Präsident zuletzt beinahe im Wochentakt. Am Sonntag brachte die beiden das Gedenken an die Verbrechen zusammen, die ukrainische Nationalisten im Zweiten Weltkrieg an der polnischen Bevölkerung begingen. Duda und Selenskij demonstrierten Einigkeit, ihre Reden schlossen beide mit dem Satz: "Gemeinsam sind wir stärker."
Selenskij hatte vor wenigen Tagen auch Tschechien und die Slowakei besucht. Um sich dafür zu bedanken, dass beide Länder die Ukraine massiv mit Waffen und Geld unterstützen - und um für einen Nato-Beitritt seines Landes zu werben. Es ist der erste Besuch eines ukrainischen Präsidenten in Tschechien seit 14 Jahren. Schon lange vor dem Krieg stellten dort die Ukrainer die größte Einwanderergruppe dar. Zudem gehörte die ukrainische Stadt Uschhorod zwischen den Weltkriegen zur Tschechoslowakei und wurde damals aus Prag regiert. Slowakei und Tschechien betonen häufig die geografische Nähe und historische Verwobenheit, die die Unterstützung der Ukraine so notwendig wie selbstverständlich mache.
"Wir verstehen, dass es kompliziert werden kann", sagt Selenskij
"Wir möchten eine Einladung in die Nato", sagte Selenskij in Prag. "Wir verstehen, dass es kompliziert werden kann, die Unterstützung aller Partner dafür zu erhalten. Mancher nimmt Rücksicht auf Moskau." Ein klares Signal sei aber nötig - und genau dabei soll Mittelosteuropa helfen.
Sowohl Tschechiens Präsident Petr Pavel in Prag als auch die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová in Bratislava erklärten, ein Nato-Beitritt der Ukraine liege im Interesse ihrer Länder. Dennoch wirken ihre Aussagen wie ein "Ja, aber". Ja, ein Beitritt. Aber erst, wenn der Krieg vorbei ist. So sagt es auch Andrzej Duda.
Und wann ist der Krieg vorbei? Wenn ein Waffenstillstand da ist? Wenn die russische Armee geschlagen das Land verlassen hat? Wenn die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim zurückgegeben ist?
"Der Krieg müsste so beendet sein, dass in absehbarer Zeit kein neuer Krieg möglich ist", sagte Janusz Reiter der Süddeutschen Zeitung. Der Gründer des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau war Anfang der Neunziger polnischer Botschafter in Berlin, später in Washington.
Polens Präsident äußert Verständnis für die deutsche Haltung
Aber gerade Deutschland gibt sich in puncto Nato-Beitritt der Ukraine zurückhaltend. Dort sei man sich der Bedrohung durch Russland genauso bewusst wie in Polen, sagt Reiter. "Aber die Reaktion auf diese Ängste ist verschieden." Das liege an der Geschichte beider Länder und an ihrer geografischen Lage. Polens Präsident Duda äußerte kürzlich sogar Verständnis für die deutsche Haltung: "Ein zurückhaltender Ansatz bedeutet, dass Artikel 5 ernst genommen wird. Das ist keine leere Klausel." In Artikel 5 ist geregelt, dass die Nato-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen Partner als Angriff gegen alle ansehen - und als Verpflichtung, Beistand zu leisten.
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Fraglich ist, ob die östlichen Länder sich durchsetzen können - vor allem beim wichtigsten Nato-Verbündeten USA. Die Regierung in Polen, so fürchtet Janusz Reiter, könne da Probleme haben. Wohl kein Land fühle sich so betroffen und identifiziere sich so stark mit dem Kampf der Ukrainer wie Polen. Doch der fehlende Dialog mit den wichtigsten Partnern in Europa, insbesondere mit Deutschland, "schwächt Polens Einfluss in den USA".