Baden-Württemberg:"Ich lasse mich von diesen Leuten nicht zu einer Fremden erklären"

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Rassismus habe sie erst im Stuttgarter Landtag kennengelernt, sagt Muhterem Aras. (Foto: Verena Müller/laif/Verena Müller/laif)

Muhterem Aras ist Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg - und für viele Rechte ein Feindbild. Ein Gespräch über Grenzüberschreitungen, Rassismus im Parlament und rechtsextreme Vertreibungspläne.

Interview von Max Ferstl und Roland Muschel, Stuttgart

Als Muhterem Aras nach Deutschland kam, war sie zwölf und sprach kein Wort Deutsch. Seit 2016 steht die 58-Jährige dem Landtag von Baden-Württemberg vor, eine Frau aus einer Zuwandererfamilie, Alevitin, Grüne. Von AfD-Abgeordneten wird Aras regelmäßig angefeindet. Eine Abgeordnete sah in ihrer Wahl ein "ganz klares Zeichen, dass die Islamisierung Deutschlands in vollem Gang ist". Aras sagt, dass die Grenzüberschreitungen zunehmen, je stärker die AfD in den Umfragen werde.

Frau Aras, vor Kurzem wurde bekannt, dass bei Treffen von Rechtsextremen und einzelnen AfD-Politikern darüber diskutiert worden sein soll, wie man Millionen von Menschen aus Deutschland aussiedeln könne . Von einer "Remigration" war die Rede. Wie geht es Ihnen damit?

Muhterem Aras: Das schockiert mich, aber es überrascht mich nicht. Ich kenne diesen Rassismus aus dem Landtag von Baden-Württemberg. Die Grenzüberschreitungen werden immer extremer, je stärker die Umfragewerte der AfD sind. So absurd diese Pläne auch klingen - sie haben reale Vorbilder. Das ist der Nationalsozialismus, so klar muss man das auch benennen. Der Holocaust hat nicht mit dem Bau von Konzentrationslagern begonnen, sondern viel früher, mit Ausgrenzung, mit Sprache, Diffamierung, der Herabsetzung von Menschen, die als "anders" definiert wurden. Das Wort "Remigration" hört sich so harmlos an. Aber wenn wir uns überlegen würden: Wer in unserem Umfeld wäre dann weg? Das will ich mir gar nicht ausmalen.

Diese Herabsetzung findet mittlerweile auch in Parlamenten statt. Sie sind immer wieder das Ziel solcher Angriffe. In der vergangenen Legislatur sagte der damalige AfD-Politiker Wolfgang Gedeon an Sie gerichtet: "So können Sie ein Parlament in Anatolien führen, aber nicht in Deutschland" ...

... für einige bin ich offenbar die ultimative Provokation: eine emanzipierte, selbstbewusste Frau aus einer Zuwandererfamilie, Nichtchristin und dazu auch noch eine Grüne, die einem Landesparlament vorsteht. Da bricht bei manchen natürlich das völkische Weltbild zusammen. Ich muss gar nichts sagen, meine Anwesenheit allein reicht, um diese Leute zu triggern. Aber das ist nicht mein, sondern deren Problem. Nur: Wenn dann Ausfälle solcher Abgeordneter gegen meine Person ins Netz gestellt werden oder mein Foto samt gefälschter Zitate, geht die Maschinerie aus Hass und Hetze los.

Sie sitzen seit 2011 für die Grünen im Landtag, seit 2016 stehen Sie dem Parlament vor. Wie hat sich die Auseinandersetzung verändert?

Im Wahlkampf 2016 gab es eine Veranstaltung der Grünen Jugend, da sollten Hass-Mails vorgelesen werden. Nur: Ich hatte überhaupt kein Material. Dabei war ich da schon zwölf Jahre im Stuttgarter Gemeinderat, Kreisvorsitzende der Grünen, Fraktionschefin. Ich habe meine ersten richtig rassistischen Erfahrungen hier im Landtag gemacht, als Parlamentspräsidentin. Heute könnte ich so einen Abend allein bestreiten - mit Hass-Mails, Morddrohungen, Briefen, in denen meine Familie bedroht und mit dem Besitz konkreter Waffen geprahlt wird.

Was unternehmen Sie dagegen?

Ich beziehe weiter klar Position und stelle viele Strafanträge, weil ich zeigen will, dass der Rechtsstaat auch in den sozialen Medien gilt. Mittlerweile müssen viele eine Geldauflage zahlen. Ich möchte, dass diese Menschen spüren: Ihr könnt euch nicht alles erlauben.

Muss man sich das antun?

99 Prozent der Rückmeldungen, die ich aus der Bevölkerung erhalte, sind positiv, das gibt mir Kraft. Ich lasse mich von Rassisten nicht einschüchtern. Als Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland schon mal eine ausländerfeindliche Stimmung aufkam, mit brennenden Häusern in Mölln, Solingen oder Hoyerswerda, da habe ich mich erst mal zurückgezogen. Zum Schutz habe ich mir dann ein Pfefferspray gekauft. Mein Bruder meinte: Du spinnst doch! Das war für mich ein Augenöffner: Ich lasse mich von diesen Leuten nicht zu einer Fremden erklären, Deutschland ist auch meine Heimat. Deshalb bin ich überhaupt in die Politik gegangen. Ich bin bereit, alles für diese Freiheitsrechte zu geben - weil ich weiß, was es heißt, in Unfreiheit zu leben.

Sie spielen auf Ihre Herkunft an. Sie haben Ihre Kindheit in der Türkei verbracht, als Tochter alevitischer Kurden. Was bedeutete das konkret?

Ich erinnere mich noch genau: Wenn wir mit der Familie im Auto von Filderstadt in die Türkei gefahren sind, haben wir die kurdischen Kassetten an der Grenze in den Müll geworfen, da die kurdische Sprache damals in der Türkei verboten war. Wie wir gezittert haben: Hoffentlich werden wir ohne Probleme durchgelassen. Ich möchte das nie wieder erleben. Ich würde die Freiheitsrechte, die wir genießen, für nichts auf der Welt aufgeben.

Wie ist es Ihnen bei Ihrer Ankunft in Deutschland ergangen?

Ich bin mit zwölf Jahren hierhergekommen und konnte kein Wort Deutsch, meine Mutter war Analphabetin, mein Vater hat in der Produktion bei Thyssen gearbeitet. Ihr Credo war: Wir fördern euch, ihr müsst nichts machen, nur lernen. Und: Sucht euch deutsche Freunde. Ich wurde in der fünften Klasse einer Hauptschule eingeschult und saß neben einem blonden Mädchen, Annette. Erste Stunde Mathe, eine Aufgabe an der Tafel, die hatte ich auf meinem Platz gelöst, dann hat die Lehrerin gefragt, wer die Aufgabe an der Tafel lösen kann. Ich habe es natürlich nicht verstanden, aber Annette hat meinen Arm gehoben. Dann musste ich an die Tafel und konnte zeigen, was ich kann - zu dem Zeitpunkt zwar kein Deutsch, aber Mathe. Wir wurden einfach ins kalte Wasser geschmissen. Entscheidend war die Offenheit meiner Eltern - aber vor allem auch die Offenheit und Wertschätzung der Deutschen.

Diese Offenheit wird inzwischen von einigen als Problem gesehen. Die AfD könnte in diesem Jahr bei mehreren Landtagswahlen die stärkste Kraft werden. Selbst hier im wohlhabenden Baden-Württemberg ist sie sehr stark. Eine Antwort darauf scheinen die anderen Parteien nicht zu haben.

Man kann das nicht ignorieren, deshalb ist es wichtig, sich mit dem Grundgesetz auseinanderzusetzen: Das Grundgesetz geht von mündigen Bürgern aus. Wir haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Jeder Demokrat, jede Demokratin sollte spätestens jetzt wachgerüttelt sein, dass es nicht darum geht, aus Protest das Kreuz bei einer Partei zu machen, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Da kann niemand hinterher sagen: Ich habe es nicht gewusst, mit wem ich laufe, bei wem ich mein Kreuz mache.

Aktuell wird wieder einmal über ein Verbot der AfD diskutiert. Hielten Sie das für gerechtfertigt?

Ich bin erst mal froh, dass die Sicherheitsbehörden erste Landesverbände als gesichert rechtsextrem eingestuft haben. Eigentlich müsste das jetzt für die Bundespartei folgen. Ein Verbot ist zu Recht an sehr hohe Hürden gebunden, aber es sollte auf jeden Fall geprüft werden. Eines müssen wir uns klarmachen: Mit dem Verbot ist die Gesinnung nicht weg. Deshalb sind jetzt alle gefordert, gegen Demokratiefeinde klare Haltung zu zeigen. Rassismus gefährdet unsere Demokratie und ist kein Problem von mir persönlich oder von Menschen aus Zuwanderungsfamilien. Es geht um die Werte von uns allen.

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