Das Politische Buch:Die Neu-Bildungsbürger

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Neue Heimat: Drei türkische Gastarbeiterkinder posieren im Jahr 1979 vor der Bergarbeitersiedlung Schüngelberg in Gelsenkirchen-Buer. (Foto: Werner Otto/Imago)

Stephanie Zloch zeichnet akribisch nach, wie sich migrantisches Wissen seit 1945 in Deutschland ausbreitete und wie Behörden und Heimatländer den Unterricht der Gastarbeiter-Kinder beeinflussten. Und sie zeigt, warum dieses Wissen der Einwanderungsgesellschaft guttut.

Rezension von Rudolf Walther

Migrationsforschung hat in der Bundesrepublik lange ein Randdasein geführt. Sie gewann erst in den vergangenen 20 Jahren mehr Beachtung. Zumal das Kapitel Bildung wurde von der Zeitgeschichtsschreibung, wenn überhaupt, fast nur unter den Aspekten der quantitativen und qualitativen Expansion sowie der damit bewirkten Emanzipationsprozesse bearbeitet. Nun liegt dazu ein Standardwerk vor: Stephanie Zloch, Privatdozentin für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der TU Dresden, behandelt in ihrer Habilitationsschrift über "Das Wissen in der Einwanderungsgesellschaft" die Auswirkung der verschiedenen Migrationsprozesse auf die Teilsysteme "Bildung" und "Schule" seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die Autorin unterscheidet drei relevante Dimensionen des Wissens in der Einwanderungsgesellschaft: erstens das Governance-Wissen über Migration in Verwaltungen und Politik, zweitens das Wissen von Experten in Pädagogik, Sozialwissenschaften und der Migrationsforschung und drittens das von Migranten selbst produzierte und in Umlauf gesetzte Wissen. Seit den Sechzigerjahren sind sozialwissenschaftliche Experten verstärkt damit beschäftigt, soziale Probleme mit den Mitteln der Analyse des Verwaltungshandelns zu erforschen und darzustellen. Das so erzeugte Expertenwissen trägt zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit bei sowie zur "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (Lutz Raphael 1996). Selbstorganisiertes Wissen im muttersprachlichen Unterricht oder durch Organisationen der Migranten konstituiert hingegen die "Erinnerung an Eigenes und Anderes" (Reinhart Koselleck 1975).

Tonnenschweres Quellenmaterial ausgewertet

Was die Bezeichnung der Migranten angeht, so zeigen Quellen wie auch die Migrationsforschung, dass die Vielfalt der dafür verwendeten Begriffe die Bemühungen um eine neutrale Terminologie völlig illusorisch machen. Zu ehemaligen Kriegs- und KZ-Gefangenen gesellten sich nach Kriegsende Menschen in Lagern, die beispielsweise und undifferenziert als "Vertriebene", "Verschleppte", "Aus- und Umgesiedelte", "Flüchtlinge", "Geflohene" bezeichnet werden. In allen diesen Menschengruppen gab es Kinder, womit das Thema "Schule" ins Blickfeld kommt.

Die bewundernswürdige Studie von Stephanie Zloch wertete die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs in seinen Dependancen in Berlin­-Lichterfelde und Koblenz, des CDU-Archivs in Bonn-St. Augustin, der Landesarchive Hessens, Baden-Württembergs, Hamburgs und Sachsens sowie das Privatarchiv der Körber-Stiftung in Hamburg und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg aus und stellt das tonnenschwere Quellenmaterial übersichtlich dar. Allein diese Archivarbeit verdient höchsten Respekt und Anerkennung.

Muttersprachlichen Unterricht gab es nicht in jedem Bundesland

Methodisch stützt sich die Arbeit auf die theoriearchitektonisch mit größter Raffinesse konstruierte Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann und die in ihrer Validität eher problematisch totalisierende Macht- und Wissenstheorie des französischen Philosophen Michel Foucault sowie die ungeklärten und fragmentarisch gebliebenen Vorstellungen einer Geschichtstheorie des Historikers Reinhart Koselleck. Dazu lässt sich anmerken, dass der Status und die Reichweite der referierten Ansätze im Fortgang der Analyse nicht recht transparent werden, was die erwähnten methodischen Ansätze zur Analyse wirklich beitragen und was vor allem akademischer Dekoration dient.

Ein "D-Schild" (links) und der Aufkleber eines türkischen Fußballvereins (rechts) kleben in der Ausstellung "Immer bunter: Einwanderungsland Deutschland" im Haus der Geschichte (2014) an einem Ford Transit. (Foto: Henning Kaiser/dpa)

Das gilt sicher nicht für die differenzierte Behandlung des Wissens, denn die Kategorien des selbsterzeugten und mitgebrachten Wissens erweisen sich bei der Analyse, den Konflikten und Problemen der Entwicklung der Migrationsprozesse als sachdienlich und nützlich. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung des unterschiedlichen Umgangs der Bundesländer mit dem muttersprachlichen Unterricht. Während dieser für die Kinder von italienischen Arbeitsemigranten etwa in Baden-Württemberg schon 1962 vom Land finanziell gefördert wurde, mussten deutsche Kinder mit Sprachproblemen auf einen kompensatorischen Förderunterricht in Deutsch warten. In DP-Lagern wiederum fand derlei Förderunterricht schon zuvor auf private Initiativen hin statt. Die Hamburger Schulbehörde formulierte im Frühjahr 1965 den grundsätzlichen Einwand: "Hamburg ist nicht interessiert, dass Familien der Gastarbeiter durch günstige Angebote - wie den muttersprachlichen Unterricht an Schulen - nach Hamburg ziehen."

Vom Hamburger Kurs setzte sich die "Kultusministerkonferenz" (KMK) ab, formulierte aber erst 1971 die lange gültig gebliebene Richtung des deutschen Umgangs mit der Arbeitsemigration als "Doppelaufgabe" der "Integration und der Rückkehrvorbereitung" für Ausländer, was Bayern und Baden-Württemberg ebenso strikt ablehnten wie die Zustimmung zur schlichten Einsicht in die Realität der längst existierenden deutschen Einwanderungsgesellschaft. Auch für spanische und griechische Kinder gab es muttersprachlichen Unterricht, zum Teil in selbstorganisierter Form der Migranten, obwohl gelegentlich auch die diplomatischen Vertretungen und nicht-öffentliche Organisationen wie die Gewerkschaft IG Metall in Hessen Einfluss nahmen, vor allem wenn Konsulate unter den Lehrkräften oppositionelle Linke witterten. Um 1970 kamen neue Akteure in der Bildungspolitik zum Zug: Kirchen, Wohlstandsverbände und Gewerkschaften, aber auch zahlreiche Bürger- und Elterninitiativen auf lokaler Ebene.

Athen und Ankara fürchteten um ihr kulturelles Erbe

Die Träger des muttersprachlichen Unterrichts variierten von Bundesland zu Bundesland, da die Rechtsgrundlagen lange ungeklärt blieben. Während die italienischen Diplomaten die Einschulung italienischer Kinder in deutschen Schulen förderten und mit einer 80-prozentigen Beteiligungsquote erfolgreich waren, traten die griechische und die türkische Vertretung für Vollzeitschulen ein aus der Sorge um die Bewahrung des kulturellen Erbes. Mit der Steigerung des Migrationsgeschehens wurde die Anerkennung des mitgebrachten und des vermittelten Wissens in der BRD und durch die Herkunftsländer immer wieder zum Anlass für Konflikte. In der BRD galt ab 1951 die Schulpflicht auch für Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Damit endete die schulstatistische Erfassung von Kindern von Aussiedlern, Umsiedlern und deutschen Geflüchteten und damit auch Teile der Wissenszirkulation und -produktion. Die Probleme der Migration verlagerten sich zunehmend auf das sozial-, wirtschafts- und arbeitsrechtliche Feld. Die DDR verkündete die "Lösung des Umsiedlerproblems".

Stephanie Zloch: Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Bildung in Deutschland 1945 bis 2000. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 678 Seiten, 54 Euro. (Foto: Wallstein)

In einem Kapitel ihres Buches behandelt die Autorin übrigens auch das wenig geläufige Thema der DDR als Einwanderungsland, denn für die BRD war die DDR bis zum Mauerbau nur ein wichtiges Auswanderungsland, aus dem bis 1961 etwa drei Millionen Menschen nach DDR- Gesetzen illegal - ab 1952 als "Republikflüchtlinge" tituliert - in die BRD flohen. In die DDR flohen aber auch Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, vor allem aus dem heutigen Polen sowie Remigranten aus der Sowjetunion. Die DDR nahm zudem nach dem griechischen Bürgerkrieg 1946-49 auch griechische Kinder und nach dem Korea-Krieg 1952 nordkoreanische Kinder mit erwachsenen Begleitpersonen auf sowie etwa 550 000 Rückkehrer aus der BRD. Die griechischen Kinder waren zunächst im "Heimkombinat Freies Griechenland" untergebracht, wo sie einem rigiden Regime unterworfen wurden, das sie zu "fortschrittlichen griechischen Patrioten" erziehen wollte, das "richtiges" Wissen vermittelte und mitgebrachtes Wissen der Kinder weitgehend ignorierte, was nicht ohne Konflikte mit Schülern und Betreuern aus dem Herkunftsland ablief.

Kurzum: Das Buch von Stephanie Zloch bietet ein starkes Stück historischer Aufklärung und wagt "eine im Grundsatz optimistische Haltung zur Zukunft der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland".

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