Krieg in Nahost:Nirgendwo Sicherheit

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Von der südisraelischen Stadt Sderot aus lässt sich beobachten, wie über dem nördlichen Gazastreifen nach einem israelischen Angriff Rauch aufsteigt. (Foto: JACK GUEZ/AFP)

Israels Angriffe zielen darauf, die Hamas zu vernichten. Sie feuert weiterhin Raketen aus dem Gazastreifen ab. Dort sucht die Zivilbevölkerung vergeblich Schutz.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Die morgendlichen Bulletins sind sachlich und nüchtern, zahlen- und zielorientiert: "Mehr als 250 militärische Ziele der Hamas-Terrororganisation im Gazastreifen" seien in den vergangenen 24 Stunden bombardiert worden, heißt es am Freitag in den Kommunikationskanälen der israelischen Armee. Ziel seien Kommandozentralen, Raketenabschussrampen und Tunnelanlagen gewesen. Angereichert sind die offiziellen Verlautbarungen oft mit Videos, die präzise Luftschläge zeigen. Aus dieser Perspektive - von hoch oben aus dem Kampfflugzeug oder aus den Kommandozentralen - ist dieser Krieg ein Handwerk. Unten am Boden ist er eine Katastrophe.

Drei Wochen nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel mit 1400 Toten hat sich der Krieg festgefressen rund um Gaza. Seit 21 Tagen schon bombardiert die israelische Luftwaffe den palästinensischen Küstenstreifen mit unvergleichbarer Wucht. Israelische Medien sprechen von bis zu 10 000 Angriffen bislang. In die Gegenrichtung hat die Hamas bislang rund 8000 Raketen abgefeuert, bis weit hinein ins israelische Kernland. Am Freitag wurde wieder ein Haus in Tel Aviv getroffen, es gab Verletzte.

Weit mehr israelische Luftschläge und Hamas-Raketen sind das schon jetzt als im Krieg von 2014, und der hat 50 Tage gedauert. Aber dieses Mal geht es ja auch nicht mehr darum, der Hamas eine abschreckende Lektion zu erteilen. Diesmal geht es um alles: "Wir oder sie" - so hat es Israels Verteidigungsminister Joav Gallant am Donnerstagabend in einer Fernsehansprache zugespitzt.

Es ist unmöglich, die Zivilbevölkerung zu schützen

Die Zerstörung der Hamas ist das erklärte Kriegsziel, und das verlangt kompromisslose Härte, bei den Angriffen aus der Luft und aller Voraussicht nach in Bälde auch am Boden. Diese Härte, so betont es Israels Armeeführung immer wieder, richte sich allein gegen die Infrastruktur der in Gaza herrschenden Terrororganisation. Die Zivilbevölkerung solle so weit wie möglich verschont werden. Als Beleg für diesen Vorsatz gilt der Aufruf an die 1,1 Millionen Bewohner des nördlichen Gazastreifens, sich in den südlichen Teil in Sicherheit zu bringen, bevor die angedrohte Bodenoffensive beginnt. Schon für die Nacht auf Samstag kündigte Israel an, den Einsatz von Bodeneinheiten auszubauen.

Doch allein diese Evakuierungsaufforderung zeigt, wie unmöglich es unter den Bedingungen des Gazastreifens ist, bei Angriffen dieses Ausmaßes die Zivilbevölkerung zu schützen. Hunderttausende Menschen sollen sich zwar auf den Weg nach Süden gemacht haben. Aber auch dort wird weiter bombardiert, und viele mussten ihre Häuser verlassen. Insgesamt sind laut UN-Angaben inzwischen 1,4 der 2,2 Millionen Bewohner innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Alle halbwegs geschützten Plätze zum Beispiel in Schulen sind heillos überfüllt. "Nirgendwo sind wir sicher", sagt einer der Geflüchteten, dessen Name nicht genannt werden soll, am Telefon zur SZ.

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Eine Trennung zwischen militärischen und zivilen Zielen ist auch deshalb fast unmöglich, weil sich die 30 000 bis 40 000 Kämpfer der Hamas gezielt hinter der Zivilbevölkerung verschanzen. Auch schon in den vorausgegangenen Kriegen haben sie ihre Waffenlager und Raketenwerfer in der Nähe von Krankenhäusern, Kindergärten oder Moscheen platziert. Die weitverzweigten Tunnelanlagen verlaufen unter extrem dicht besiedeltem Gebiet. Angesichts seiner Kriegsziele dürfte Israel darauf nun noch weniger Rücksicht nehmen als zuvor.

Das erklärt die jetzt schon enorm hohe Zahl von Opfern und das Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen. Von mehr als 7300 Toten, zwei Drittel davon Frauen und Kinder, spricht das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium. Überprüfbar ist das nicht, US-Präsident Joe Biden persönlich hat die Zahlen in Zweifel gezogen. Aber wie schon in den vorangegangenen Kriegen, in denen später keine allzu großen Abweichungen zutage traten, werden die palästinensischen Angaben mangels anderer Quellen auch von den UN übernommen. Das gilt genauso für die Schätzung der Schäden. Fast 18 000 Häuser im Gazastreifen wurden demnach komplett zerstört oder sind unbewohnbar, weitere 150 000 beschädigt. Am Freitagabend fielen nach Angaben der Palästinensischen Telekommunikationsgesellschaft alle Kommunikations- und Internetdienste aus.

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Zahlen sind das nur, hinter denen Zigtausende Schicksale stehen wie das jener Palästinenserin aus dem südlichen Gazastreifen, die mit ihren zwei Töchtern und den alten Eltern in einem kleinen Zimmer bei Bekannten unterkam. "Wir sind alle krank vor Angst, ich habe 40 Grad Fieber", sagt sie am Telefon. Wasser gebe es noch, doch Brot sei knapp. "Wir backen Fladen, und jeder bekommt ein kleines Stück."

Bislang sind seit Kriegsbeginn laut UN rund 500 Lastwagen mit Lebensmitteln und Medikamenten über die Grenze zu Ägypten in den Gazastreifen hereingekommen. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was benötigt wird. Die Aufrufe der EU und der USA zu Feuerpausen und geschützten Korridoren für Hilfslieferungen haben bisher noch kein Echo gefunden in Israel. Am Freitagabend verabschiedete die UN-Vollversammlung eine Resolution zur Verbesserung der humanitären Situation und für eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen. Aber auch sie ist nur symbolisch.

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