An Timmo Scherenbergs Mahnung kommt am Samstag keiner vorbei, der zum Grünen-Parteitag in Bad Vilbel will. "Menschenrechte kennen keine Grenzen", steht auf seinem knallroten Banner. Der Chef des Hessischen Flüchtlingsrats hat direkt am Eingang zum Kongresszentrum einen Proteststand mit Organisationen wie Pro Asyl und der Diakonie aufgebaut.
Früher, sagt Scherenberg, hätten die Grünen ja noch mit ihnen auf der Straße gestanden. Vorbei. "Ein Unding", findet er den von führenden Grünen-Politikern mitgetragenen Kompromiss zur europäischen Asylreform. Scherenberg steht hier, weil er auf eine Umkehr der Grünen hofft und auf Widerstand innerhalb der Grünen auf dem eigenen Parteitag. "Der Käs' ist noch nicht gegessen", glaubt Scherenberg.
Von "Schande" und "Machtmissbrauch" war die Rede
Der Protest findet an diesem Samstag dann tatsächlich nicht nur vor der Halle statt. Auch drinnen trifft sich eine aufgewühlte Partei. "Wir sehen, wie sehr uns diese Debatte zerreißt", räumt Außenministerin Annalena Baerbock am Nachmittag in einer Rede ein. "Auch mich hat es zerrissen." Sie habe der EU-Reform trotz Zweifeln zugestimmt, um zu verhindern, dass Fortschritte in anderen Bereichen der Migrationspolitik scheitern, etwa ein Verteilmechanismus für Geflohene.
"In aller Ruhe" mit Carolin Emcke:"Teuer und völlig kontraproduktiv" - Karl Kopp über die Asylpolitik der EU
War das Recht auf Asyl jemals so angefochten wie im Moment? Und ist der Umgang mit Asylsuchenden in Europa noch mit dem Völkerrecht vereinbar? Darüber spricht Karl Kopp von Pro Asyl bei "In aller Ruhe".
Dass Baerbock einer Verschärfung des europäischen Asylrechts zustimmte, obwohl die Grünen in der Ampel-Koalition eigentlich weit größere Ausnahmen von diesen Regeln gefordert hatten, löste in der Partei in den vergangenen Tagen heftigen Ärger aus. Von "Schande" und "Machtmissbrauch" war unter führenden Politikern die Rede.
Nach emotionalen und stundenlangen Debatten aber kommt die Grünen-Führung am Samstag mit einem blauen Auge davon. Die Delegierten verdonnern sie am Ende des Parteitags mit einem Beschluss dazu, sich für Nachbesserungen bei der EU-Asylreform einzusetzen. Dem Papier zufolge muss sich die Grünen-Spitze vor allem dafür stark machen, Familien mit Kindern von den geplanten Asyl-Grenzverfahren auszunehmen. Zudem soll es ein "Menschenrechtsmonitoring" an den Außengrenzen geben. Doch Anträge, die noch schärfere rote Linien für Minister und Parteiführung in der Asylpolitik ziehen wollen, bekommen keine Mehrheit. So scheitert die Grüne Jugend mit einem Vorstoß, die Verpflichtung für Außengrenzverfahren in einem weiteren Antrag infrage zu stellen. Die Grünen wenden damit auch eine Krise der Ampel-Koalition ab, die ein solcher Beschluss vor kaum lösbare Probleme gestellt hätte.
"Druck von allen Seiten"
Das Treffen in Hessen macht allerdings klar, wie tief die Gräben in der Asylpolitik in der Partei geworden sind. Erst mit einer knappen Stunde Verspätung konnte Grünen-Geschäftsführerin Emily Büning das Treffen am Mittag eröffnen. Die Parteispitze versuchte in den Hinterzimmern händeringend, Kritiker der Asylpolitik von einer noch härteren Konfrontation abzubringen.
Wirtschaftsminister Robert Habeck redet der Partei schon zu Beginn des Treffens ins Gewissen. Die Kritik an den Grünen zeige, was gerade auf dem Spiel stehe. "Es gibt Druck von allen Seiten auf uns. Daraus darf nicht folgen, dass wir konfrontativer werden", mahnt Habeck und warnt vor einem neuerlichen Richtungsstreit. "Habt keine Sehnsucht nach einer Minderheitenposition, habt keine Sehnsucht nach Opposition. Das wäre Versagen vor der historischen Aufgabe, die uns gegeben ist." Die Grünen dürften sich nicht in die Nische drängen lassen und brauchten mehrheitsfähige Positionen, gerade auch beim neuen Heizungsgesetz oder der Asylreform.
Auch der grüne Ministerpräsidentenkandidat für die hessische Landtagswahl im Herbst, Tarek Al-Wazir, fordert ein Ende der internen Auseinandersetzungen. Ihm kommt ein Richtungsstreit im Wahlkampf ohnehin gerade äußerst ungelegen. Den Kopf in den Sand zu stecken, löse kein Problem, meint Al-Wazir. "Regieren heißt auch, schwere Entscheidungen zu treffen."
Endgültig befriedet aber ist der Streit mit dem Beschluss vom Samstag wohl kaum. Denn für viele Grüne sind die Entscheidungen in der Asylpolitik zu schwer. Aminata Touré, die Integrationsministerin von Schleswig-Holstein, erklärt, sie halte die Asylrechtsverschärfung für falsch. "Sie enttäuscht mich." Die Grünen müssten für den Schutz der Geflüchteten einstehen. Es sei schmerzhaft, dass ihre eigene Partei mit dem Kompromiss auf europäischer Ebene auch einer Asylrechtsverschärfung in Deutschland zugestimmt habe. Die Grünen hätten eine große Verantwortung etwa für den Schutz von Kindern im Asylverfahren, sagt Dennis Helmich, der Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt. Dem dürften sie auch die Regierungsverantwortung nicht unterordnen.
Das Kirchenasyl werde faktisch unmöglich gemacht, schreibt jemand von der Basis
Der Streit um die Asylpolitik wird bei den Grünen so hart geführt, weil er einen Kern der Partei berührt. Zehntausende neue Mitglieder waren seit 2015 zu den Grünen gekommen, weil sie sich für Geflüchtete einsetzen. Viele verstünden nach der Zustimmung der Bundesregierung "die Welt nicht mehr", sagte der Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler schon vor dem Parteitag.
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Am Ende stellten sich die Delegierten mit deutlicher Mehrheit hinter den Kompromissantrag des Bundesvorstandes, in den zuvor allerdings zahlreiche Änderungen von Kritikern der Entscheidung aus Luxemburg integriert worden waren. Fraglich ist jedoch, welche Folgen der Beschluss der Grünen hat. Denn auf europäischer Ebene gilt es als äußerst unwahrscheinlich, dass die vom Parteitag geforderten Nachbesserungen in Europa durchsetzbar sind. Es bleibe wohl alles, wie es ist, fasst ein Delegierter am Ende etwas frustriert zusammen.
Und auch an der Basis gab es frustrierte Reaktionen. In kirchlichen Kreisen herrsche nach dem Parteitag Entsetzen, heißt es in einem Schreiben an eine Grünen-Abgeordnete, das der SZ vorliegt. So werde etwa das Kirchenasyl faktisch unmöglich gemacht. "Ich überlege gerade den Austritt aus den Grünen", schreibt der Absender. "Und ich bin nicht alleine."