Die Grünen und die Asylreform:Partei in Aufruhr

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Annalena Baerbock (Grüne) steht im Fokus der parteiinternen Kritik, weil die Außenministerin den EU-Kompromiss zum Asyl mitträgt. (Foto: Jens Krick/picture alliance / Flashpic)

Die Grünen haben in der Koalition schon viele Zugeständnisse gemacht. Der Asylkompromiss aber geht vielen zu weit. Droht ein Rückfall in alte Flügelkämpfe?

Von Markus Balser und Constanze von Bullion, Berlin

Europas Behörden hatten den heillos überladenen Fischkutter schon früh bemerkt. Schon am Dienstag gegen Mittag informierte die EU-Grenzschutzorganisation Frontex griechische Behörden über das kleine Schiff, auf dem sie mehr als 600 eng zusammengepferchte Menschen vermutete. Hilfe aber bekamen die Migranten nicht. In der Nacht zum Mittwoch sank ihr Boot, das laut Zeugen wohl auch über 100 Kinder an Bord hatte. Mehr als 500 Tote befürchten griechische Behörden inzwischen. Eine "erneute schreckliche Katastrophe" beklagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD).

Es ist ein tödliches Drama, das in Deutschland den ohnehin heftigen Streit über eine stärkere Abschottung Europas weiter anfacht. Nach der Zustimmung Deutschlands zu einem härteren Kurs gegenüber Flüchtlingen vergangene Woche herrscht dicke Luft in der Koalition. Vor allem weite Teile der Grünen halten den von der eigenen Außenministerin Annalena Baerbock mitgetragenen Kurs für völlig falsch. Schließlich blieben die zur Bedingung gemachten Ausnahmen etwa für Familien auf der Strecke. Selbst Parteichefin Ricarda Lang sprach von einem Fehler.

Die Partei sei inzwischen "in Aufruhr", räumen Spitzenpolitiker der Grünen ein. Die Kritik aus den eigenen Reihen reißt nicht ab. "Die deutsche Zustimmung war verwunderlich", sagt der Außenpolitiker Jürgen Trittin der Süddeutschen Zeitung. "Die Bundesregierung hatte im Vorfeld klare Kriterien für eine Zustimmung vereinbart und die wurden überwiegend nicht erreicht."

Krisenrunden, Austritte: Es geht um die Identität der Partei

Die Bundestagsabgeordnete Karo Otte fordert gar, den Beschluss wieder rückgängig zu machen: "Die Bundesregierung hat die Grundlage des Koalitionsvertrags verlassen, ohne ein Votum von Parteien und Fraktionen. Dieser Fehler muss korrigiert werden." An der Basis häuften sich in den vergangenen Tagen Krisenrunden. Von Parteiaustritten ist die Rede. Es gehe um den Kern der grünen Identität, heißt es in der Parteispitze.

Schon an diesem Samstag droht den Grünen ein regelrechtes Scherbengericht. Auf einem kleinen Parteitag im hessischen Bad Vilbel, der eigentlich mal als positives Startsignal für den Wahlkampf in Hessen gedacht war, wird der Asylkurs zum Thema Nummer eins. Die rund 100 Delegierten müssen dann allein über mehr als 40 Gegenanträge zum offiziellen Asylkurs der Grünen entscheiden, die bis Freitag eingingen.

Kommen die Kritiker mit ihren Forderungen durch, wäre das nicht nur ein harter Schlag für die Grünenspitze. Dann hätte wohl auch die Ampelkoalition ein Problem. So will etwa die Grüne Jugend die Parteiführung zu Nachbesserungen auf EU-Ebene verdonnern. Allerdings sind gravierende Änderungen am EU-Kompromiss in Brüssel kaum durchsetzbar. Die ausgehandelte Asylreform stünde dann wohl auf der Kippe.

Für das sechsköpfige Machtzentrum der Grünen, die beiden Parteichefs Omid Nouripour und Ricarda Lang, die Fraktionschefs Britta Haßelmann und Katharina Dröge sowie Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck wird es ungemütlich. "Die Aufregung in den Kreisverbänden ist groß", sagt der Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler. Zehntausende neue Mitglieder seien seit 2015 zu den Grünen gekommen, wegen der Klimapolitik, der AfD "und weil sie sich vor Ort für Geflüchtete einsetzen. Viele verstehen nach der Zustimmung der Bundesregierung die Welt nicht mehr".

Baerbocks Staatsministerin verschickt Argumentationshilfen

Führende Grüne versuchten deshalb zuletzt, die Stimmung an der Basis aufzuhellen. Habecks Parlamentarische Staatssekretärin Franziska Brantner stellte sich der aufgewühlten Parteibasis in Hamburg. Baerbocks Staatsministerin für Europa, Anna Lührmann, schickte allen grünen Bundestagsabgeordneten ein sechsseitiges Schreiben, als Argumentationshilfe gegen Kritiker. Mehr als 1000 Menschen seien in diesem Jahr bereits vor den Küsten Europas ertrunken, heißt es in fast beschwörendem Ton. Die Zeit für eine Asylreform laufe ab. Ohne eine gemeinschaftliche Reform aber drohe eine "Verhärtung der Migrationspolitik" und "die Gefahr eines Zusammenbruchs von Schengen" - das Ende offener Grenzen in Europa also. Doch auch die Parteilinke mobilisiert. In vertraulichen Runden, Schalten und Chats machten Gegner des Kompromisses mobil.

Der Flügelstreit bei den Grünen könnte bald voll aufbrechen, warnt der Bochumer Stadtrat Sebastian Pewny, Autor eines Basis-Briefes, der die Partei zur Zustimmung zum Kompromiss und zu mehr Zusammenhalt aufruft. Realos und Fundis würden sich wahlweise in hartem Ton vorwerfen, kein Herz oder keinen Verstand zu haben. So gehe es nicht weiter. Das glauben auch Führungskräfte in Berlin. "Der Länderrat darf nicht im Streit enden", sagt der Parlamentarier Trittin. "Wir brauchen jetzt einen Beschluss mit großer Mehrheit, damit wir wieder nach vorne diskutieren können."

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