Delhi liegt etwa 4500 Kilometer von Kiew entfernt, doch auch in der indischen Hauptstadt wird viel vom Ukraine-Krieg gesprochen. Seit vergangener Woche geben sich Regierungsvertreter aus Japan, Großbritannien, Nepal, EU-Ländern, Israel und Australien in Delhi die Klinke in die Hand. Indien verfügt zwar nicht über so viel wirtschaftliche Kraft wie sein Nachbar China, stellt mit etwa 1,3 Milliarden Einwohnern aber trotzdem eine große Macht dar. Darum soll es verstärkt eingebunden werden in den Kreis der westlichen Staaten.
Mit großer Aufmerksamkeit erwartet wird deshalb der Freitag, wenn ausgerechnet der russische Außenminister Sergej Lawrow nach Indien kommt. Der Mann aus Moskau hatte am Mittwoch noch China besucht, erstmals seit der Invasion in der Ukraine traf er seinen Amtskollegen Wang Yi, der ihn als "alten Freund" willkommen hieß. In einer gemeinsamen Erklärung vereinbarten Lawrow und Wang Yi den Ausbau ihrer "strategischen Partnerschaft" in einer "schwierigen internationalen Situation", wie es aus Moskau hieß. Beide Länder rücken noch enger zusammen.
Nun besucht Lawrow als nächstes Land Indien. Vor ihm fliegt allerdings noch der US-Unterhändler Daleep Singh in Delhi ein. Singh gilt als Konstrukteur der weltweiten Sanktionen gegen Russland - und es schadet auch nicht, dass er von der großen Gruppe indischer Einwanderer in den USA abstammt. Singh wird in Delhi mit hochrangigen Regierungsvertretern sprechen, man will sich "über die Folgen des ungerechtfertigten Krieges Russlands gegen die Ukraine und die Abmilderung seiner Auswirkungen auf die Weltwirtschaft beraten", so meldete es das Weiße Haus. Es geht also auch um Geld.
Die indische Regierung hatte bei den Vereinten Nationen zwar einen Waffenstillstand gefordert, den russischen Angriff aber nicht verurteilt. Russland ist der wichtigste Waffenlieferant Indiens. Auch Sanktionen verhängte Delhi nicht, sondern ergriff stattdessen die Gelegenheit, sich günstig mit russischem Rohöl einzudecken. Während im vergangenen Jahr insgesamt 16 Millionen Barrel gekauft wurden, waren es in den vergangenen Wochen seit Kriegsbeginn bereits 13 Millionen Barrel, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Der Preisnachlass durch die internationale Isolation ist attraktiv.
Russlands Außenminister Lawrow reist nicht nach Delhi, um über den Krieg zu diskutieren. Sein Besuch soll weiteren Vereinbarungen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit dienen. Indien erwägt, neben seiner verstärkten Rohöleinfuhr die Kohleimporte aus Russland zu verdoppeln, um die eigene Stahlherstellung anzutreiben - es muss dringend seine Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die beiden Länder darüber verhandeln, wie man den russischen Rubel und die indische Rupie miteinander verrechnen kann, ohne den US-Dollar als Leitwährung und das Bankentransfersystem Swift zu nutzen. So notwendig Indien Rohstoffe braucht, so zwingend ist Russland auf Geld aus dem Ausland angewiesen.
Aber auch Deutschland kauft weiter in Russland ein
Gleichzeitig aber sucht Delhi die Nähe zu Washington, um Peking in Schach zu halten. Im Gegensatz zum Handel mit Russland, der in normalen Zeiten nur etwa neun Milliarden US-Dollar jährlich umfasst, belaufen sich die Deals mit China im Durchschnitt auf etwa 100 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig befinden sich die beiden riesigen Nationen jedoch in einem Grenzkonflikt im Himalaja, der sich stetig verhärtet. Um dort stark auftreten zu können, ist Indien wiederum auf die russischen Waffenlieferungen angewiesen. In einem Beziehungsgespräch würde man sagen: Es ist kompliziert.
So betonte Jennifer Psaki, die Sprecherin des Weißen Hauses, in der vergangenen Woche bei einer Pressekonferenz, dass der Kauf von russischem Rohöl den vom Westen verhängten Sanktionen nicht widerspreche. Das war nötig geworden, nachdem US-Präsident Joe Biden die indische Haltung zu den Sanktionen "ein bisschen wackelig" genannt hatte - ungeachtet der Tatsache, dass es europäische Länder gibt, die Moskaus Aktionen zwar scharf verurteilen, aber ihren Energiebedarf trotzdem weiter in Russland decken. Unter ihnen Österreich, Italien und Deutschland.
Die militärischen Beziehungen zwischen Indien und Russland reichen in die Zeit zurück, in der Indien die Unabhängigkeit von Bangladesch unterstützte. Das Land koppelte sich 1971 von Pakistan ab, mit einem Freiheitskrieg, in dem Hunderttausende Menschen ermordet und vergewaltigt wurden. Militärische Hilfe für Delhi kam damals aus Moskau, während die USA einen Flugzeugträger an den Golf von Bengalen schickten, um Pakistan zu unterstützen. Bis heute hält sich daher in Delhi die Ansicht, dass den USA nicht zu trauen sei. Der Afghanistan-Abzug hat diese Meinung bestätigt.
Indien hat seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik über die Jahre stark mit Russland verflochten. Experten des US-Thinktanks "Stimson Center" schätzen, dass etwa 85 Prozent der indischen Militärausrüstung russischen oder noch sowjetischen Ursprungs sind. Es geht also nicht nur um neue Deals, sondern auch um die Wartung und Ersatzteile, die Indiens Sicherheit gewährleisten. "Diese Abhängigkeit macht Indien anfällig für russische Vergeltungsmaßnahmen, falls Delhi sich Moskaus Position zur Ukraine nicht beugt", schreiben die Südasien-Experten Frank O'Donnell und Akriti Vasudeva vom Stimson Center in ihrem Bericht.
Der Westen misst mit zweierlei Maß, kritisiert ein indischer Ökonom
Anders beurteilt der Ökonom Mihir Sharma vom indischen Thinktank "Observer Research Foundation" die Lage. Er warnt davor, dem Westen zu sehr zu trauen. "Bei Indien und vielen weiteren Entwicklungsländern scheinen die westlichen Mächte und die von ihnen beherrschten Institutionen andere Maßstäbe anzulegen als bei Konflikten in ihrer Nähe", schrieb Sharma vergangene Woche. So habe die Weltbank für die Ukraine in Rekordzeit ein Multi-Millionen-Dollar-Paket geschnürt, kümmere sich um andere kriegsgeplagte Länder aber nur langsam.
Auch den Ausschluss russischer Banken vom Swift-Finanznachrichtensystem sieht Sharma kritisch: Ein Hilfsmittel zur Bankenkommunikation sei hier zum Instrument westlicher Außenpolitik gemacht worden. Dabei habe man nicht bedacht, wie "Länder wie Indien, die auf Swift angewiesen sind, um Öl und Düngemittel aus Russland zu bezahlen, mit den Folgen umgehen würden".
Es gibt also für alle Seiten viel zu besprechen in Delhi. Und es bleibt kompliziert.