Holocaust-Gedenken im Bundestag:Das Grauen in den Vermerken

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Es wurden Vermerke geschrieben, in denen sich heute ein Teil des Grauens zeigt. Die Feststellung einer tödlichen Krankheit für den Totenschein. Die Registrierung von Goldzähnen im Gebiss der Insassen.

Vor dem Ankleiden sollten alle duschen. 63 nackte Männer in einem weiß gekachelten Kellerraum. Drei mal fünf Meter. "Die Türe wird geschlossen. Was mag in ihnen vor sich gehen? Angst? Panik? Was hören sie? Was riechen sie?"

Es ist still, vollkommen still im Plenum des Bundestags. Hartmut Traub spricht weiter. "Dr. Hennecke öffnet den Gashebel." Über die alten Wasserleitungen strömt das Gas in die Duschkammer: Kohlenmonoxid. "Benjamin wird übel. Er verliert das Bewusstsein." Nach wenigen Minuten sind er und seine Leidensgenossen erstickt.

Der Raum wird entlüftet, das technische Personal schleift die Toten hinaus. Goldzähne werden gezogen, manchen wird zu wissenschaftlichen Zwecken das Gehirn entnommen. Die Leichen werden in den beiden Öfen des hauseigenen Krematoriums verbrannt. 30 bis 40 Minuten brennt jede Leiche.

Von Januar bis August 1941 haben Ärzte und Pflegepersonal in Hadamar 10 113 Männer, Frauen und Kinder auf diese Art umgebracht. "Über der Stadt Hadamar stand über sechs Monate lang - gut sichtbar - die dunkle Rauchsäule des Krematoriums der Tötungsanstalt auf dem Mönchberg." Hartmut Traub blickt vom Pult auf zu den Abgeordneten im Bundestag, wartet einige Sekunden. Dann geht er zurück zu seinem Platz.

Vor Hartmut Traub liest der Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski den "Opferbrief" von Ernst Putzki vor. Urbanski hätte die Nazi-Zeit wohl genauso wenig überlebt wie Benjamin Traub und Putzki oder Anna Lehnkering und Norbert von Hannenheim. Urbanski hat das Down-Syndrom.

Urbanski liest vor, was Putzki am 3. September 1943 an seine Mutter schrieb. Putzki bedankt sich für ein Paket. "Der Inhalt, zwei Pfund Äpfel und eine faule matschige Masse von stinkenden Birnenmus wurde mit Heißhunger überfallen. Um eine Hand voll zu faulem Zeug rissen sich andere Todeskandidaten drum."

Putzki, angeblich geisteskrank, war sechs Wochen zuvor in die Anstalt Weilmünster verlegt worden. "Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen. Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg", schrieb Putzki. Auch er kam nach Hadamar. Am 9. Januar 1945 wurde er dort getötet. Er war 41 Jahre alt.

Zwischendurch ertönt im Bundestag Musik von Norbert von Hannenheim. Klavier-Musik mit Dissonanzen, verstörend. Hannenheim wurde 1944 nach einem schizophrenen Anfall in eine Berliner Heilanstalt eingewiesen. Später wird er in eine Anstalt nach Meseritz-Obrawalde im heutigen Polen gebracht. Die dortige Massentötung geistig Kranker überlebte er. Er starb kurz nach Kriegsende am 19. September 1945 im Alter von 47 Jahren.

Sigrid Falkenstein tritt an das Pult, sie ist die Nichte von Anna Lehnkering. Sie war geschockt, als sie 2003 den Namen ihrer Tante zufällig auf einer Euthanasie-Opferliste entdeckte. Niemand in ihrer Familie hatte je über die Tante gesprochen, auch ihr Vater nicht. "Angeborener Schwachsinn" wurde Anna attestiert. 1934 wurde sie mit 19 Jahren als "schädlich für den gesunden Volkskörper" zwangssterilisiert und zwei Jahre später in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingewiesen.

Tod in der Duschkammer

Am 6. März 1940 wird sie ins 600 Kilometer entfernte Grafeneck gebracht. Einen Tag später steht sie mit vielen anderen in einem weiß gekachelten Raum. Gas kommt aus den Duschköpfen. Kohlenmonoxid, wie in Hadamar.

Aus heutiger Sicht würde ihre Tante wohl als lernbehindert gelten, sagt Sigrid Falkenstein. Anna Lehnkering war verständig, aber eben überhaupt nicht gut in Mathe. Den Nazis hat das gereicht, um sie umzubringen.

Die Musik hat an Norbert von Hannenheim erinnert, Sebastian Urbanski mit seiner Lesung an Ernst Putzki. Hartmut Traub hat die Geschichte seines Onkels erzäht. Sigrid Falkenstein die Geschichte ihrer Tante. Die Abgeordneten im Bundestag, Bundespräsident Joachim Gauck, Bundesratspräsidentin Malu Deyer, Kanzlerin Angela Merkel und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßuhle, sie alle stehen auf und zollen dem Gehörten ihren Beifall. Viele von ihnen mit Tränen in den Augen. Tränen, die zeigen, wie wichtig, wie besonders dieser Tag ist.

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