Holocaust-Überlebender Felix Kolmer:"In Auschwitz herrschte eine große Stille"

Ausstellung 'Schuhe, Steine, Ich - Reflexionen aus Auschwitz'

Felix Kolmer in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin - Die derzeitige Ausstellung "Schuhe, Steine, Ich - Reflexionen aus Auschwitz" ist Auftakt der weltweiten Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 72. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.

(Foto: dpa)

Selektion durch Doktor Mengele, der Kapo schlägt zum Einstand einen Mann tot: Der Holocaust-Überlebende Felix Kolmer erzählt vom Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Interview von Oliver Das Gupta, Prag

Felix Kolmer kam 1922 in Prag zur Welt. Der Tscheche wurde 1941 von den deutschen Besatzern verhaftet, weil er Jude ist. Kolmer überlebte mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz II, das Vernichtungslager Birkenau. Nach dem Krieg wurde Kolmer an der Technischen Universität Prag Professor für Physik und spezialisierte sich auf Akustik. Kolmer ist Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.

SZ: Herr Kolmer, Sie sind Professor für Akustik. Da frage ich einfach mal: Ging es laut zu im Vernichtungslager Auschwitz?

Felix Kolmer: Überhaupt nicht. In Auschwitz-Birkenau herrschte eine große Stille. Wenn jemand geschrien hat, waren das die SS-Männer oder die Kapos. Wir Häftlinge haben nicht gesprochen, denn jeder Satz, jedes Wort kostete Kraft. Wir waren erschöpft, außerdem wollten wir unsere Energie sparen, um zu überleben.

Wie haben Sie erfahren, dass in Birkenau systematisch Menschen vernichtet werden?

Am Anfang wussten wir gar nichts. Als der Zug auf dem Bahnhof stehen blieb, habe ich durch das vergitterte kleine Fenster aus unserem Waggon geschaut und das Schild gesehen, auf dem "Auschwitz" stand. Den Namen hatte ich noch nie gehört oder gelesen. Beim Aussteigen auf der Rampe waren meine ersten Eindrücke: Häftlinge in gestreifter Kleidung, die auf uns warteten. Ein Gebäude, das hohe Kamine hatte, aus denen Flammen kamen.

Das Krematorium.

Das habe ich am Anfang nicht begriffen, obwohl ein Häftling in seinem gestreiften Anzug auf mich zugekommen ist. "Aus diesem Lager gibt es nur einen Weg raus", sagte er mir und zeigte zu den Schornsteinen. Ich dachte damals nur: Vielleicht ist der schon etwas zu lange im Lager und dabei etwas deppert geworden, wie die Wiener sagen.

Welche Erinnerungen haben Sie an die sogenannte Selektion, bei der die SS diejenigen Menschen bestimmte, die gleich ermordet werden sollten?

SS-Doktor Josef Mengele war derjenige, der selektiert hat. Unser Transport kam ja aus Theresienstadt. Da waren lauter Menschen dabei, die im Kulturbereich gearbeitet hatten und nur ein paar Arbeiter und Handwerker, so wie ich. Ich war Tischler und 22 Jahre alt. Mengele schickte mich auf die rechte Seite. Auf der anderen Seite sah ich eine Prozession von Müttern mit ihren Kindern, Menschen, die humpelten und älteren Menschen. Und alt war man für die SS mit 40.

Ich bin 42.

Sie hätten keine Chance gehabt.

Wie viele Menschen kamen mit Ihnen im Zug aus Theresienstadt?

Insgesamt waren es 1500 Menschen. Am nächsten Tag waren wir nur noch 250. Mengele hatte die anderen in die Gaskammern geschickt. Wir kamen in das sogenannte Zigeunerlager B II e. Kurz bevor wir gekommen sind, sind alle Sinti und Roma ins Gas gegangen, so war Platz für uns.

Ein kräftiger Mann, der einen anderen Anzug getragen hat als wir, stellte sich vor uns hin: unser Kapo, der hier einsaß, weil er ein Verbrecher war. Er sagte, dies sei das beste Lager der ganzen Welt - man müsse nur Befehlen folgen. Wer nicht folgt, werde schwer bestraft, sagte er. Dann brachte er seinen Schreiber, einen älteren Mann, zu uns. Vor unseren Augen hat der Kapo ihn mit einem Stock totgeschlagen. So zeigte er uns, was mit uns passiert, wenn wir nicht parieren.

Wie lange waren Sie in Auschwitz-Birkenau?

Etwa zwei Monate. Das ist vergleichsweise lange, denn Juden haben durchschnittlich nur drei, vier Wochen überlebt, bevor sie ermordet wurden.

Wie haben Sie geschafft, dem Vernichtungslager lebend zu entkommen?

Ich habe im richtigen Augenblick gehandelt. Ich sollte in ein Außenlager verlegt werden, wo Häftlinge in Bergwerken arbeiten mussten. Wir haben immer nur Transporte von Häftlingen gesehen, die dort hingingen - aber niemand kam zurück.

"Ich hatte ein positives Programm - das hat mich wahrscheinlich auch überleben lassen"

Also war klar: Das ist eine Reise in den sicheren Tod.

Sie sagen es. Nachts ging es los. Die SS hat uns durchs Lager getrieben, die Hunde bellten, Peitschen knallten und Aufseher haben in die Luft geschossen. An der Rampe sollte ich in einen Waggon Richtung Bergwerke steigen. Auf der anderen Seite habe ich in einem anderen Waggon Häftlinge gesehen, die ich aus Theresienstadt kannte. Zu diesen Leuten bin ich dann schnell hin in einem Moment, als es gerade dunkel war, weil der Scheinwerfer sein Licht gerade woanders hinstrahlte. So kam ich in ein Außenlanger des KZ Groß-Rosen namens Friedland [in Niederschlesien; Anm. d. Red.].

Auch in Groß-Rosen und den Außenlagern starben mehrere Zehntausend Häftlinge.

Ja, es war schlimm - aber im Vergleich zu Auschwitz waren die Bedingungen wesentlich besser.

Herr Kolmer, Sie waren damals in ständiger Todesgefahr. Woran haben Sie sich festgehalten, was hat Ihnen Kraft gegeben, um zu überleben?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin ein alter Pfadfinder - ein Mitglied bis heute. Wir hatten damals drei Verpflichtungen: Die Heimat zu lieben und zu verteidigen, Gesetze und Pfadfindervorschriften einzuhalten. Und der dritte Punkt, den ich mir zu meiner persönlichen Aufgabe gemacht habe: Mit aller Macht denjenigen helfen, die in Not sind. Auch in Gefangenschaft habe ich mich stärker gefühlt als die anderen. Ich hatte ein Programm - ein positives Programm. Diese Einstellung hat mich wahrscheinlich auch überleben lassen.

Sie waren 19, als die Deutschen sie von Prag nach Theresienstadt verschleppt haben. Stimmt es, dass Sie einen geheimen Ausweg aus dem KZ gefunden hatten?

Ja, das ist richtig. Ich gehörte zum Aufbaukommando, das die alte österreichische Garnisonsfestung Theresienstadt zum Lager umbauen musste. Als Zwangsarbeiter musste ich Büsche entfernen und habe dabei eine Stelle entdeckt, wo man die Mauer mühelos überwinden konnte. Ein tschechischer Polizist war als meine Wache abgestellt, aber er war freundlich zu mir: Er gab mir von seinem Brot ab und erlaubte mir, über die Mauer zu klettern, um im nahen Fluss zu baden.

Der Polizist hat Sie einfach gehen lassen?

Ich hatte ihm mein Wort gegeben zurückzukommen und ich habe es gehalten. Ich habe diesen Ausflug über die Mauer noch ein zweites Mal gemacht und gebadet.

Warum sind Sie nicht geflohen?

Ich hatte mich damals der Untergrundbewegung angeschlossen. Mein Auftrag war, einen Ausweg aus Theresienstadt zu finden. Mir war klar: Über diesen Weg können mehrere Menschen bei Todesgefahr fliehen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt musste die Sache geheim bleiben.

Die Todesgefahr kam - in Form der Transporte in die Vernichtungslager.

Uns war das nicht klar. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass es so einen furchtbaren Ort wie Auschwitz-Birkenau geben kann.

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