Euthanasieopfer:"Man hat schon als Kind mitgekriegt, dass da gräuliche Methoden angewandt werden"

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Melitta Burger glaubte dem Arzt nicht, als der einst Leberprobleme ihrer Mutter als Todesursache angab. Nachgeforscht hat sie trotzdem nicht. (Foto: Robert Haas)

Die Mutter von Melitta Burger litt an Schizophrenie und wurde von den Nazis ermordet. 70 Jahre lang hat die Tochter geschwiegen - jetzt bringt sie das Thema in den Bundestag.

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Das Schweigen beginnt, als ihr geholfen wird. Als Melitta Burger Mitte der Dreißigerjahre einer Schulärztin anvertraut, dass ihre Mutter schizophren ist, und die Ärztin antwortet: "Um Gottes Willen, sag das doch niemandem. Sag nix. Niemals." Melitta Burger wurde damals vor der Zwangssterilisierung gerettet. Aber sie hat es gar nicht gemerkt.

"Mutter gestorben, Beerdigung vorbei"

Im Januar 1945 arbeitet Burger als Nachrichtenfunkerin in Ostpreußen, als sie vom Tod ihrer Mutter erfährt. Ihr wird ein schmaler Zettel zugestellt, "Mutter gestorben, Beerdigung vorbei". Erst im Januar 2015 erfährt sie, was sich hinter "gestorben" verbirgt: verhungert. Ihre Mutter wurde konsequent unterernährt, getötet durch Nahrungsentzug, von den Ärzten in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München. 70 Jahre Unwissen, 70 Jahre Scham. Eine Gesellschaft, die sich ihrer Vergangenheit schämt, und Angehörige, die sich ihrer Familie schämen.

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Aber vielleicht ändert sich nun etwas. An diesem Freitag wird im Reichstag in Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, wie jedes Jahr; diesmal aber stehen die Opfer der Euthanasie im Mittelpunkt. Melitta Burger wird nach Berlin fahren. Sie will dort sein, wenn im politischen Zentrum Deutschlands die Opfer aus der kollektiven Verdrängung befreit werden. Wenn die Opfer ins Familiengedächtnis zurückgeholt werden. "Schade, dass es nicht 20 oder 30 Jahre früher passiert ist. Aber vielleicht waren wir nicht so weit", sagt sie.

Vierter Stock, kein Aufzug, Melitta Burger ist 97 Jahre alt und lebt allein. Ihre Münchner Wohnung ist ordentlich, auf der Kommode stehen zwei Fotografien, auf dem Tisch liegt eine blaue Plastikmappe. "Hier ist alles drin", sagt sie. Die Hand ist ruhig, wenn sie die Mappe aufschlägt und eine Kopie der Gewichtstabelle ihrer Mutter herausnimmt. Den Zahlen kann man entnehmen, dass die Patientin Irmgard Burger 1,60 Meter groß ist und am 30. Dezember 1943 in die Anstalt aufgenommen wird. Im Januar 1944 wiegt sie 56 Kilogramm. Im Februar 54 Kilogramm. Im September 36 Kilogramm. Im Dezember 30,5 Kilogramm.

Der letzte Eintrag der Krankenakte lautet: "Fortschreitender körperlicher Zerfall im Laufe des Jahres. Tod an körperlicher Schwäche am 07.12.1944 (3 Uhr 40)". Der Eintrag stammt von Anton von Braunmühl, dem behandelnden Arzt in der Klinik Eglfing-Haar. Er ist es, den Melitta Burger aufsucht, um herauszufinden, was mit ihrer Mutter passiert ist. Nach ihrem Einsatz in Ostpreußen war sie in Potsdam, nach Kriegsende dann nach München versetzt worden. Mit dem Fahrrad fährt sie raus nach Haar, in einen riesigen Komplex am Stadtrand. Als sie Braunmühl konfrontiert, wird der unwirsch und spricht von Leberproblemen. "Der hat mich angelogen. Ganz klar angelogen", sagt Burger heute.

Die Kinder bekamen Spritzen mit einer Überdosis Schlafmittel

Die Patienten aus Haar wurden zunächst in die Tötungsanstalt Grafeneck in Baden-Württemberg deportiert. Am 18. Januar 1940 rollte der erste Transport, 2025 Menschen aus Haar wurden dort vergast. Weil man aber in Berlin Unmut in der Bevölkerung fürchtete, wurden dann andere Mordmethoden eingeführt, getötet wurde in den einzelnen Anstalten, stiller und billiger. Die Kinder bekamen Spritzen mit einer Überdosis Schlafmittel. In einem der ehemaligen "Kinderhäuser" von Eglfing-Haar befindet sich heute ein Kindergarten. Für die Erwachsenen entwickelte man eine Hungerkost. 440 Patienten kamen in Hungerhäusern um, die Männer in Haus 25, die Frauen in Haus 22. Haus 22 ist heute Teil der forensischen Psychiatrie, man gelangt dorthin über die Von-Braunmühl-Straße.

Es ist eine Mischung aus Wissenwollen und Nicht-Wissenwollen, mit der Melitta Burger schon damals kämpfte. Haar, sagt sie, sei ein Schreckensort gewesen: "Man hat schon als Kind mitgekriegt, dass da gräuliche Methoden angewandt werden." Auch ihr Großvater hatte Angst um seine schizophrene Tochter. Als sie eingeliefert wird, schreibt er dem Direktor, den er darum bittet, "von einer Schocktherapie abzusehen". Der Brief endet mit Dankesworten: "Zum Schluss möchte ich, sehr geehrter Herr Doktor, nochmals meiner Genugtuung Ausdruck geben über Ihr liebendes Interesse und zeichne mit vorzüglicher Hochachtung."

Als Burger von Braunmühl mit der Lebergeschichte abgespeist wird, nimmt sie die frisch gewaschenen Kleider der Mutter und geht. Sie glaubt dem Arzt nicht. Weiter nachgeforscht hat sie aber nicht.

Melitta Burger legt den Brief zur Seite. "Meine Schwester hat nie was wissen wollen", sagt sie. Ihre Schwester ist auf einem der beiden Fotos zu sehen, die auf der Kommode stehen. Sie hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und genau deshalb über die Mutter geschwiegen. Auch die Schwestern untereinander haben nicht über die Mutter geredet. Der Ehemann sollte nicht wissen, dass es eine psychisch Kranke in der Familie gab, zu groß war die Angst davor, verlassen zu werden. Zu groß war der Einfluss der Nazi-Indoktrination.

Geisteskranke sollten das sogenannte kranke Erbgut nicht weitergeben

Melitta Burger geht zum Bücherregal, sie ist Bibliothekarin, dementsprechend gut sortiert sind die Nachschlagewerke. Meyers Großes Taschenlexikon. Sie schlägt "Euthanasie" nach: "Die nationalsozialistische Regierung in Deutschland führte ein Programm (1940-1945) zur systematischen Tötung missgebildeter Kinder und erwachsener Geisteskranker durch." Geisteskranke sollten das sogenannte kranke Erbgut nicht weitergeben. "Es war ganz klar, das war eine Erbkrankheit und man darf sich nicht fortpflanzen", sagt Burger. Die Schwester hat die Mutter verschwiegen, um ihre Familie zu sichern, bis zu ihrem Tod im Jahr 2000. Erfahren, was mit der Mutter passiert ist, hat sie nie. Auch nicht, dass die heutige Medizin den Begriff "erbkrank" ad acta gelegt hat und die Erkrankung Schizophrenie differenzierter sieht.

Melitta Burger ist einen anderen Weg gegangen und hat auf Mann und Kinder verzichtet. Das zweite Foto auf der Kommode zeigt, wie sie sagt, "meine Freundin": Pauline, 20 Jahre älter. Mit ihr hat sie 53 Jahre zusammengelebt, sie hatte die Wohnung direkt einen Stock unter Burger. Die beiden haben unten gefrühstückt und oben zu Abend gegessen oder anders herum, jeden Tag. Lesbisch, meint sie, war das nicht unbedingt. "Es war halt meine Pauline."

Dass sie keine klassische Familie mit Mann und Kindern haben würde, war ihr schon in der Grundschule klar. Später einmal habe ihr eine alte Schulfreundin erzählt, dass sie in der dritten Klasse auf dem Heimweg von der Schule plötzlich gesagt habe: "Ich will nicht heiraten, ich hab so Angst vor dieser Krankheit."

Als Burger im Januar 2015 in der Zeitung liest, dass es im Gasteig eine Informationsveranstaltung für Angehörige von Euthanasieopfern gibt, weiß sie nicht, was sie erwartet. Erst als sie vom Schicksal ihrer Mutter erfährt und die Gewichtstabelle in Händen hält, ist ihr klar, dass man jetzt reden muss, überall, öffentlich. Regelmäßig trifft sie sich mit anderen Angehörigen, die ebenfalls unter dem Tabu gelitten und die eigene Familiengeschichte erst nach und nach erfahren haben. Gemeinsam haben sie einen Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert geschickt, mit Erfolg: Am Freitag wird vor dem Bundestag über die Ermordung 240 000 psychisch kranker Menschen im Nationalsozialismus gesprochen, also dort, wo es keiner mehr überhören kann.

Melitta Burger steckt die Gewichtstabelle, den Brief des Großvaters, die Auszüge aus der Krankenakte zurück in die blaue Mappe. Dann nimmt sie einen Umschlag heraus, ein Bahn-Ticket zum Selberausdrucken. München - Berlin. Sie wird etwas früher am Gleis sein. "Ich darf nicht zu spät kommen."

© SZ vom 26.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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