Das Politische Buch:Auf Kroko-Art ins Kanzleramt?

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Stühlerücken in der CDU? Hendrik Wüst im Mai 2022 nach dem Sieg bei der Landtagswahl in NRW. Hinten der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. (Foto: Omer Messinger/Getty Images)

Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, ist zwar noch gar nicht so alt, aber schon eine gefühlte Ewigkeit in der Politik. Tobias Blasius und Moritz Küpper haben ein Buch über einen Mann geschrieben, bei dem man nie so ganz weiß, wer er ist - und wo er hinwill.

Rezension von Tim Frehler

Er weiß, dass sein Plan aufgehen wird, seelenruhig vertreibt er sich die Zeit bis zu seiner Rede. Gleich werden ihn die CDU-Mitglieder im Wahlkreis Borken I, die an diesem Novemberabend in das Hotel "Am Erzengel" nach Bocholt gekommen sind, zu ihrem Landtagskandidaten wählen. Dann ist Hendrik Wüst so gut wie am Ziel. Den Wahlkreis zu gewinnen, dürfte für einen CDU-Politiker im Münsterland nicht die allergrößte Hürde sein. Es folgen: Auftritt, Applaus, Aufregung. Weit mehr als die absolute Mehrheit holt der Kandidat, dabei galt er vorher gar nicht als Favorit. Doch Wüst hatte Vorkehrungen getroffen und Absprachen eingefädelt, damit im Saal genügend Unterstützer sitzen - und ja nichts schiefgeht.

Fast zwanzig Jahre sind seit dieser Szene vergangen, der Bewerber von einst sitzt nun in der Düsseldorfer Staatskanzlei, regiert Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland und führt die CDU in NRW. Aber reicht ihm das? Oder hat Hendrik Wüst wieder einen Plan? So wie damals im "Erzengel". Zieht er etwa schon wieder die Fäden für den nächsten Schritt, den nach Berlin?

Wüst war mittelmäßig in der Schule und im Handball

Diesen Fragen gehen die beiden Journalisten Tobias Blasius (Funke-Mediengruppe) und Moritz Küpper (Deutschlandfunk) nach. Auf 220 Seiten leuchten sie aus, was für ein Politiker und Mensch Wüst ist. Für ihr Buch mit dem Titel "Hendrik Wüst - Der Machtwandler" haben sie laut eigenen Angaben mit knapp 100 Personen gesprochen - mit Freunden, Förderern, Fachleuten - und dem ein oder anderen Rivalen von Hendrik Wüst.

Die beiden Autoren sind ausgewiesene Kenner der Landespolitik in Nordrhein-Westfalen - eindrucksvoll gelingt es ihnen, Wüsts Politikerleben Schritt für Schritt zu rekonstruieren - das bereits von beachtlicher Länge ist, gemessen daran, dass Wüst noch nicht einmal 50 Jahre alt ist. Die beiden Autoren fangen mit Wüsts Jugend an: Er geht auf das Gymnasium in Bocholt, wo er kein überragender Schüler ist, und spielt Handball beim TV Rhede - auch nicht überragend. Aber schon mit 15 Jahren engagiert er sich bei der Jungen Union. Dort beginnt sein politischer Aufstieg, hier knüpft er früh Seilschaften innerhalb der Partei. Zum Beispiel in der sogenannten Einstein-Connection, einer Vierergruppe, bestehend aus Stefan Mappus, Markus Söder, Philipp Mißfelder und Wüst, die sich 2007 zusammentun, um der Union eine konservativere Note zu verpassen.

Tobias Blasius, Moritz Küpper: Hendrik Wüst - Der Machtwandler. Karriere und Kalkül. Klartext-Verlag, Essen 2023. 224 Seiten, 22 Euro. (Foto: Klartext-Verlag)

Seine Stärken hat das Buch auch in den wenigen, aber einprägsamen Momenten, in denen es um Wüsts Privatleben geht: Seine Mutter stirbt früh an Krebs. Als Wüst - gerade als Generalsekretär über die "Rent a Rüttgers"-Affäre gestolpert - dabei ist, diese politische Niederlage zu verarbeiten, stirbt sein Vater. Später beschreiben die Autoren einen der seltenen Augenblicke, in denen der immer kontrollierte Wüst von seinen Gefühlen übermannt wird - und ihm in seinem Landtagsbüro die Tränen kommen. Da war gerade Philipp Mißfelder, sein Freund und Wegbegleiter aus JU-Zeiten, gestorben.

Es ist nicht das erste Buch, das Blasius und Küpper über einen Politiker geschrieben haben. Die beiden haben also Erfahrung darin, die Mächtigen auszuleuchten. Zuvor haben sie bereits jenen Vorgänger Wüsts porträtiert, der zuletzt versucht hat, Kanzler zu werden: Armin Laschet. Ihm gaben sie den Titel: "Der Machtmenschliche." Passend für einen wie Laschet - Armin aus Aachen, der letztendlich vielleicht einen Tick zu menschlich war, um sich den Weg ins Kanzleramt zu bahnen.

Wüst ist Teil einer Generation von Politikern, die anders an die Sache herangeht

Wüst ist anders, kalkulierter. Und steht damit, wie die Autoren feststellen, sinnbildlich für eine Generation von Berufspolitikern, die verinnerlicht hat, dass in der Mediengesellschaft Bilder und Botschaften längst wichtiger geworden sind als das "Programmatische". Kaum vorstellbar, dass einer wie Wüst sich für eine Ansprache vor einem Müllberg aufbauen würde. Solche Patzer unterlaufen ihm nicht, Blasius und Küpper bevorzugen daher einen Vergleich mit der Tierwelt, genauer gesagt mit dem australischen Leistenkrokodil: "Man bemerkt es kaum in seiner Lethargie am Gewässerrand", schreiben sie. Doch wenn sich die Gelegenheit zum Beutezug biete, reagiere es explosionsartig.

Würde Wüst wohl nie machen: Sein Vorgänger als Ministerpräsident, Armin Laschet, im August 2021 im Überschwemmungsgebiet - vor interpretationsoffener Kulisse. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Damit zurück in den "Erzengel" nach Bocholt: Die Autoren beschreiben da einen jungen Politiker - ehrgeizig, heimatverbunden, konservativ, politisch sozialisiert in der Jungen Union -, der sich nicht mit verkopften Gedanken aufhält, sondern dem Publikum im Saal das gibt, was es hören will. (An dem Abend will es offenbar schnell nach Hause). Und der nur ungern etwas dem Zufall überlässt. "In seiner Welt ist Spontanität die charmante Übersetzung für Mangel an Planung", urteilen Blasius und Küpper. Vielmehr beschreiben sie Wüst als jene Art von Politikern, die "Politik vor allem als Handwerk verstehen und ihre Karriere kalkuliert mit perfekter Organisation und Raffinesse vorantreiben". Für sie ist Wüst einer, der in der Lage ist, sich programmatisch immer wieder neu auszurichten - je nach politischer Großwetterlage und Zeitgeist, der sich häutet und anpasst an "die sich wandelnden Geschäftsbedingungen der Politik". Ein "Machtwandler" eben.

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Für diese Erkenntnis sind die Autoren tief eingetaucht in die Irrungen und Wirrungen der Landespolitik in Nordrhein-Westfalen. Sie erzählen spannend und mit viel Liebe zum Detail. Für den Leser bedeutet das: Er muss sich einlassen, auf die Winkelzüge der Düsseldorfer Politblase, was nicht jedem leicht fallen dürfte. Auch weil das Buch an einigen Stellen zu einem Werk für jene Art politischer Feinschmecker gerät, die sich für die Besetzung der Staatssekretärsposten in Landesministerien interessiert.

Am Schluss bleibt die Frage: Wer ist Wüst eigentlich? Wie würde er entscheiden, wenn er nachts allein im Kanzleramt sitzt? Will er dort überhaupt hin? Blasius und Küpper versuchen, sich Wüsts Wesenskern zu nähern, den aber selbst manche Zeitzeugen und Wegbegleiter nicht beschreiben können. Letztendlich weiß die Antwort auf all diese Fragen wohl nur Wüst selbst - er dürfte sie "möglichst lange für sich behalten".

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