Das Politische Buch:Anker der Deutschen

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Regen hält das Grundgesetz auch ohne Schirm gut aus. Doch nicht überall in der Republik leben Verfassungsfreunde. Szene vom Tag der Deutschen Einheit 2022 in Erfurt. (Foto: Karina Hessland/Imago)

Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Ein guter Anlass, mal alle Artikel verständlich zu erklären. Das ist aber nicht immer leicht, vor allem weil die Verfassung nach 1949 immer dicker wurde.

Rezension von René Schlott

Die Bände der Reclams Universal-Bibliothek kennen die meisten sicher noch aus ihrer Schulzeit. Mit ihrem leuchtend gelben Cover, dem schwarzen Titelschriftzug und dem kleinen A6-Format haben sie einen hohen, wenngleich ambivalenten Wiedererkennungswert. Manche fühlen sich beim Anblick der Reclam-Hefte an quälend lange Lektüren seinerzeit unverständlicher Texte erinnert, andere dagegen an literarische Erweckungserlebnisse und vielleicht an den Beginn einer lebenslangen Leselust.

In der sicher bekanntesten Reihe der deutschen Buchgeschichte, die 1867 mit einer Ausgabe von Goethes "Faust" ihren Anfang nahm, erscheinen neben den Literaturklassikern für den Schulgebrauch immer wieder auch philosophische und juristische Texte. Pünktlich zum Jubiläum des Grundgesetzes bringt der Verlag nun eine gelbe Ausgabe der bundesdeutschen Verfassung heraus, deren Lektüre ebenfalls geeignet ist, einander widerstreitende, zwischen Lesevergnügen und -frust changierende Emotionen zu wecken.

Der nahezu dreihundert Seiten umfassende, aber dennoch handliche Band enthält außer dem vollständigen Verfassungstext einen begleitenden Kommentar des Berliner Juraprofessors Alexander Thiele, der es sich ausweislich des Buchuntertitels zum Ziel setzt, das Grundgesetz und seine einzelnen Bestimmungen für den Laien "verständlich zu erklären". Dem voran geht ein Geleitwort der Publizistin und selbsterklärten "Verfassungspatriotin" Jagoda Marinić, in dem sie das Grundgesetz nicht nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie als Kind von Einwanderern als "emotional aufgeladene Erfolgsgeschichte" würdigt. Zu Recht, denn die als Provisorium gedachte und deshalb nur mit dem bescheidenen Titel "Grundgesetz" versehene Verfassung hat sich trotz aller nationaler und internationaler Krisen der vergangenen acht Jahrzehnte als Stabilitätsanker erwiesen und zählt heute zu den ältesten noch gültigen Staatsverfassungen weltweit.

Für Marinić ist das Grundgesetz seit ihrer Einbürgerung als Deutsche kein "trockener Text" mehr, sondern ein "zentraler Anker", der "einen vor möglicher Willkür schützt". Sie hat dabei vor allem die aus guten historischen Gründen im Parlamentarischen Rat 1948/49 als Abwehrrechte gegen einen übermächtigen Staat formulierten Grundrechte vor Augen, die seinerzeit ganz bewusst und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte selbstbewusst an den Beginn der Verfassung gesetzt wurden. Zugleich erinnert Marinić mit Blick auf die Pandemiemaßnahmen der vergangenen Jahre daran: "Grundrechte sind Grundrechte, weil sie nicht einfach ausgehebelt werden dürfen, ganz gleich wie groß die Krisen sind."

Autobahnen haben Verfassungsrang

Während die in den Artikeln 1 bis 19 formulierten Grundrechte sicher den prominentesten Teil des Grundgesetzes darstellen, sind die darauffolgenden mehr als 120 Artikel, die den weitaus größten Teil des Gesetzestextes ausmachen, bis auf einige Ausnahmen weit weniger bekannt. Deshalb folgt man gerne der von Herausgeber Thiele in seiner Vorbemerkung ausgesprochenen "Einladung zur lesenden Entdeckung unserer Verfassung" und stößt dabei immer wieder auf Überraschendes (Wussten Sie, dass der Bundespräsident nach Artikel 61 vom Bundesverfassungsgericht abgesetzt werden kann?), manchmal auch Kurioses (Autobahnen genießen in Deutschland nach Artikel 90 "Verfassungsrang") und manches Angestaubte, längst von den Zeitläuften Überholtes, etwa die in Artikel 27 erwähnten "Kauffahrteischiffe". Anderes dagegen gelangt plötzlich zu ungeahnter Aktualität.

Das Grundgesetz - Verständlich erklärt von Alexander Thiele. Mit einem Geleitwort von Jagoda Marinić. Reclam-Verlag, Ditzingen 2023. 295 Seiten, acht Euro. (Foto: Reclam)

Dazu ein kleines Zahlenspiel: Artikel 1 mit seinem kraftvollen, nur sechs Wörter umfassenden Satz von der Menschenwürde kennt wohl jeder. Artikel 11, nachdem jeder Deutsche sich im gesamten Bundesgebiet frei bewegen darf, es sei denn, es herrscht "Seuchengefahr", ist schon weniger bekannt. Artikel 111 dagegen war bis vor wenigen Wochen nur Experten geläufig: "Ist bis zum Schluß eines Rechnungsjahres der Haushaltsplan für das folgende Jahr nicht durch Gesetz festgestellt, so ist bis zu seinem Inkrafttreten die Bundesregierung ermächtigt, alle Ausgaben zu leisten, die nötig sind [...]." Dass diese Bestimmung schon seit 1949 unverändert im Grundgesetz steht und in den folgenden drei Jahrzehnten regelmäßig zur Anwendung kam, zeigt, wie weitsichtig und vorausschauend die Verfassungsväter und -mütter damals gehandelt haben, auch wenn die sogenannte Schuldenbremse erst sechzig Jahre später Eingang in die Verfassung fand. Und dann gleich doppelt und fast wortgleich in den Artikeln 109 und 115 ("Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen."), so als könne man dem Anliegen dadurch besonderen verfassungsrechtlichen Nachdruck verleihen. Kommentator Thiele jedenfalls lässt sich davon nicht beeindrucken und macht deutlich, dass er nicht viel von der "allzu einseitigen Verteufelung staatlicher Verschuldung" hält.

Im letzten Drittel wird es kompliziert

Die Redundanz bei der " Schuldenbremse" ist nur ein Beispiel für die "hohe verfassungsrechtliche Regelungsdichte", die vor allem das letzte Drittel des Grundgesetzes beherrscht, in dem nur noch wenig von der "sprachlichen Eleganz" der Ursprungsversion durchscheint, wie Thiele beklagt. Gerade in den vergangenen Jahrzehnten habe sich die Unsitte verbreitet, "politische Kompromisse mit Verfassungsrang zu nobilitieren" und sie mit allen Details ins Grundgesetz aufzunehmen, dessen Textumfang sich dadurch seit 1949 mehr als verdoppelt hat.

So ergeht es dem Grundgesetz, wie manch anderen gelben Reclam-Bänden auch: Am Anfang gibt es einige lichte Momente, doch zum Ende hin wird die Lektüre immer mühsamer, und selbst dem kundigen Kommentator Thiele fällt es zunehmend schwerer, das Ganze noch verständlich zu erklären.

René Schlott ist Zeithistoriker und Publizist in Berlin.

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