"Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen."
Mürbe klingt die Stimme von Joachim Gauck, als er diese Sätze vor dem Bundestag ausspricht. Die meisten Abgeordneten applaudieren, auch Abgeordneten der Linkspartei, mit denen sich der Bundespräsident oft (und gerne) anlegt.
Das vorweg: Eine gelungene, ja eine große Rede hält Gauck in dieser Gedenkstunde des Parlaments zur Auschwitz-Befreiung. Und das liegt nicht nur an den persönlichen Passagen (hier die Rede im Wortlaut).
Würdig erinnert das Staatsoberhaupt an die meist jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Was nicht selbstverständlich ist: Dass der Kommunisten so kritisch gegenüberstehende Gauck auch die kommunistischen NS-Opfer erwähnt. Der Bundespräsident, der seine Gegnerschaft zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin offen zur Schau stellt, stellt heraus, dass 231 Rotarmisten bei der Befreiung des KZ Auschwitz getötet wurden. Vor ihnen, den sowjetischen Soldaten, "verneigen wir uns auch heute in Respekt und Dankbarkeit". Die Abgeordneten des Bundestages klatschen an dieser Stelle zum ersten Mal.
Gauck erinnert an den glühenden Patriotismus des Willy Cohn, der im Ersten Weltkrieg für sein deutsches Vaterland kämpfte und dafür das Eiserne Kreuz erhielt. Ein Patriot, der sich angesichts des beginnenden Mordens an Juden an seine staatsbürgerlichen Loyalität hielt. Gauck zitiert Cohn mit den Worten: "Ich liebe Deutschland so." Wenig später wurde die jüdische Familie Cohn von der SS ermordet.
Gauck macht da weiter, wo manch anderer Gedenkredner aufhört. Beim Verdrängen und Klittieren der NS-Geschichte in West- und Ostdeutschland. Gauck geißelt diesen Unwillen der Aufarbeitung der eigenen Verstrickung mit den Worten des jüngst verstorbenen Schriftstellers Ralph Giordano: eine "zweite Schuld".
Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz:"Hölle von Hass und Gewalt"
Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen das NS-Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Zum 70. Jahrestag gedenken KZ-Überlebende und Würdenträger mit Zeremonien in Auschwitz und anderorts den Opfern. Eindrücke von Gedenkfeiern.
Der Präsident zerlegt die deutsche Nachkriegspsyche. Lapidar stellt er etwa fest: "Die Bevölkerung der jungen Bundesrepublik kannte wenig Mitgefühl mit den Opfern nationalsozialistischer Gewalt."
Gauck weist auf den gängigen Reflex der (alten und neuen) Geschichtsverdränger hin: "Die meisten Deutschen sprachen sich selbst frei, indem sie Schuld und Verantwortung einer kleinen Zahl von Fanatikern und Sadisten zuschoben." Und er freut sich, dass junge Menschen selbst die Geschichten von Tätern und Opfern, von Verwandten und Unbekannten recherchieren.
Um am Ende bei Menschen, die Juden in der NS-Zeit retteten nicht nur moralische Vorbilder zu sehen, "sondern auch den Gegenbeweis zur alten These: Man hätte ja doch nichts tun können!". Erst die durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ( hier ein Porträt des Juristen) initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozesse machten das Ausmaß des NS-Mordwahns sichtbar. Doch "umfassende Betroffenheit" stellte sich nicht ein, sagt Gauck.
Ehemaliges KZ Auschwitz:Im Schatten des Grauens
Etwa eine Million Touristen besuchen jährlich das Museum des ehemaligen KZ Auschwitz. Die Stadt daneben, Oświęcim, sehen die meisten davon nur im Vorbeifahren. Der Tourismusverband will das ändern, denn es fehlen Arbeitsplätze und Perspektiven für junge Menschen.
Die kritische Selbstreflektion habe später begonnen, forciert durch die Arbeiten von Alexander und Margarete Mitscherlich ( hier ein SZ-Interview mit der Psychoanalytikerin). Doch erst die US-Fernsehserie "Holocaust" habe die Deutschen in Ost und West tief berührt.
Der Ostdeutsche Gauck widmet einen Teil seiner Rede der DDR, die auf ideologische Weise den Antifaschismus zelebrierte und instrumentalisierte. Gauck liest als Beleg ein paar Verse von Wolf Biermann aus den 1960er Jahren vor, in der er seinem sozialistischen Vaterland attestiert, dass dort "die Wiederkehr der Nazizeit (...) absolut nicht drin" sei.
Dass Gauck ausgerechnet den später ausgebürgerten Biermann zitiert, lässt in der Linken-Fraktion nicht nur Dietmar Bartsch grinsen. Biermann hat vor einigen Monaten bei seinem Auftritt im Bundestag eine Suada auf die SED-Nachfolgepartei losgelassen. Gauck bringt wohl auch durch diesen Kniff die Linke auf seine Seite. Die Sozialisten sollten anschließend Gaucks Rede ausführlich beklatschen.
Gauck weitet den Fokus vom geteilten Deutschland auf eine generelle Frage. Er spannt den Bogen von Auschwitz zu späteren Massenmorden - ohne die Einzigartigkeit der Shoah in Frage zu stellen. Das ist heikel, aber der Präsident macht es geschickt, indem er einen KZ-Überlebenden zitiert. Der habe gefragt, was angesichts anderer Genozide das zentrale Versprechen von Auschwitz wert sei, dieses "Nie wieder"? Habe es nicht Kambodscha, Ruanda und Darfur gegeben? Und - Gauck führt die Reihe fort - auch Srebrenica und heute Syrien und Irak?
Diese Herleitung ist auch eine moralische Begründung für Gaucks - inzwischen nun fast ein Jahr alte - Forderung, wonach Berlin mehr Verantwortung in der Welt von heute übernehmen solle.
Zum Ende seiner Ansprache ist Gauck in der deutschen Gegenwart angekommen. Beim Antisemitismus unter deutschen Muslimen etwa. Gauck sagt: Man müsse Einwanderern "beharrlich die historische Wahrheit" vermitteln.
Die Lehre von Auschwitz hält der Präsident auch den fremdenfeindlichen (und fremdenängstlichen) Pegida-Anhängern entgegen, ohne sie zu beim Namen zu nennen.
Man müsse sich "jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten", sagt Gauck. Die moralische Pflicht ist für ihn nicht nur das Erinnern an das Grauen von Auschwitz. Sondern der Auftrag, die "Mitmenschlichkeit" zu schützen und die "Rechte eines jeden Menschen".
So endet die Rede des Bundespräsidenten, der bei der Befreiung von Auschwitz ein Junge von fünf Jahren war, mit einem klaren Bekenntnis zum Asyl für Verfolgte. Um 10:04 Uhr schließt Bundestagspräsident Norbert Lammert die Sitzung, Gauck schüttelt Hände. Viel Zeit hat er nicht. Bald wird seine Maschine abheben und Richtung Südosten fliegen. Nach Auschwitz.