Europawahl:Die Hoffnung der Liberalen

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Vor ihm liegen schwierige Monate: Stéphan Séjourné will die Rechtsextremen eindämmen und muss die Liberalen zusammenhalten. (Foto: Kenzo Tribouillard/AFP)

Stéphane Séjourné soll dafür sorgen, dass die liberale Fraktion im EU-Parlament drittstärkste Kraft bleibt. Außerdem sagt der Macron-Vertraute den Rechtsextremen den Kampf an - vor allem im eigenen Land.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Man muss sich Stéphane Séjourné als ausgeglichenen Menschen vorstellen. Zu Beginn des Wahljahres 2024 halten sich bei Emmanuel Macrons engstem Konfidenten in Brüssel gegensätzliche Emotionen die Waage, und er ist mit seinen 38 Jahren Politprofi genug, um sich den Druck nicht anmerken zu lassen, der auf ihm lastet. Séjourné ist zugleich Vorsitzender der liberalen Fraktion Renew Europa im Europäischen Parlament und Generalsekretär der Renaissance-Partei des französischen Präsidenten. Und während er Zuversicht verbreitet angesichts der jüngeren Wahlerfolge der Liberalen in Europa, etwa in Polen, warnt er zugleich vor den drohenden Erfolgen der Nationalisten bei der Europawahl.

"Wir riskieren ein unregierbares Europa", sagt Séjourné. Nämlich dann, wenn die rechten und rechtsextremen Kräfte so stark werden, dass die stabile demokratische Mehrheit wackelt, die sogenannte von-der-Leyen-Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten und Liberalen. Letztere, sagt er, müssten weiter im Zentrum des Parlaments verankert bleiben, als Mehrheitsbeschaffer und als Kraft, die Positionen links und rechts der Mitte auf sich vereint. "Dafür reicht es nicht mehr, dass wir überzeugte Europäer sind. Wir müssen auch überzeugende Europäer sein."

Attal und Séjourné müssen Argumente finden, die bei den Wählern verfangen

So klingt der Wahlkampfauftakt auf Französisch, just in jener Woche, in der Frankreichs Präsident Macron mit Gabriel Attal einen neuen Regierungschef installiert hat. Gemeinsam haben Attal und Séjourné nun die schwierige Aufgabe, den Rechten und Rechtsextremen etwas entgegenzusetzen, das bei den Wählern verfängt. In Frankreich liegt der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen laut Umfragen zur Europawahl knapp zehn Prozentpunkte vor Macrons Partei. Séjourné und Attal, Macronisten der ersten Stunde, verbindet mehr als die Nähe zum unbeliebten Präsidenten der Republik: Sie waren lange liiert und haben sich laut offiziell nicht bestätigten Berichten der französischen Presse erst kürzlich getrennt.

Ihre Ausgangslage ist fünf Monate vor der Wahl ungünstig. Die konservative EVP, die Sozialisten von der S&D und die Renew-Fraktion hatten bislang eine stabile Mehrheit von knapp 60 Prozent der Sitze im Parlament. Mit ihren Stimmen wurde Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin, sie haben gemeinsam ihre Politik und nicht zuletzt den Grünen Deal wesentlich mitgetragen.

Aktuelle Hochrechnungen - EU-weite Umfragen zur Europawahl gibt es keine - sehen die Liberalen jetzt nur noch auf Platz vier, überholt von der Fraktion "Identität und Demokratie", mit der sich neben dem RN etwa die AfD für eine Rückabwicklung der europäischen Integration einsetzt. Und dicht verfolgt von den Parteien der "Europäischen Konservativen und Reformer", zu der die Fratelli d'Italia von Italiens Regierungschefin Georgia Meloni gehören und künftig womöglich die derzeit fraktionslosen Abgeordneten der ungarischen Regierungspartei Fidesz. Nach jetzigem Stand könnte Renew bei der Wahl knapp ein Fünftel seiner 102 Sitze verlieren.

In Polen, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Slowenien hatten Liberale zuletzt Erfolg

Séjourné wirkt nicht so, als ließe er sich davon einschüchtern. Im Gegenteil: Er verweist lieber auf die liberalen Erfolge seit 2019, in Polen, in der Slowakei, in Rumänien und in Bulgarien, wo der konservativ-liberale Premier Nikolaj Denkow seit Sommer 2023 die Regierung anführt. Und in Slowenien hatte der grün-liberale Robert Golob im Frühjahr 2022 die Wahl gewonnen.

Allein diese Aufzählung zeigt, dass der Präsident der Renew-Parteienfamilie ein guter Diplomat sein muss. Denn Séjourné leitet ein politisches Kunstwerk aus allen Farben des Liberalismus in Europa, das 2019 entstanden war, nachdem die Macron-Partei Renaissance erstmals bei einer EU-Wahl angetreten war. Es kam eine bunte Mischung heraus, in der die marktliberale deutsche FDP mit den etatistisch veranlagten Renaissance-Abgeordneten zusammenarbeitet, die linksliberale Radikale Venstre aus Dänemark neben den konservativen Freien Wählern sitzt und in der auch die populistische Partei des tschechischen Ex-Ministerpräsidenten Andrej Babiš noch immer einen Platz hat. Parteifreunde loben Séjourné, er habe die Fraktion im Griff und tue sich in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Klimaschutz und Abgrenzung nach rechts besonders hervor. Negativ wird ihm lediglich die Nähe zu Macron ausgelegt.

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Noch ist offen, mit wem die Liberalen als Spitzenkandidaten in den Wahlkampf ziehen und welche Posten sie beanspruchen wollen. Mit Ratspräsident Charles Michel hat jüngst ein prominenter Vertreter seine Kandidatur für die Parlamentswahl erklärt. Es gebe drei Optionen, sagt Séjourné: Einen einzigen Kandidaten oder mehrere - oder ein Gesicht pro Institution, je einen für die Kommission, das Parlament und den Rat. Über das Verfahren sollen die Parteien entscheiden, und im März wird ein Manifest mit einem liberalen politischen Programm für Europa veröffentlicht. Bis zur Wahl vom 6. bis 9. Juni wird Séjourné dann vor allem in Frankreich zu tun haben, gemeinsam mit Emmanuel Macron und seinem zumindest noch politischen Partner Gabriel Attal - und gegen den Rassemblement National.

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