Europäische Union:Charles Michel, der Mann für alle Fälle

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält sich noch bedeckt, Ratspräsident Charles Michel hingegen hat angekündigt: Er will ins Parlament. (Foto: John Thys/AFP)

Der Präsident des Europäischen Rates kandidiert im Juni für das Europaparlament - er will einen Top-Job auch nach der Wahl. Und was macht Ursula von der Leyen?

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, wird bei der Europawahl Anfang Juni als liberaler Spitzenkandidat in Belgien antreten. Das klingt lapidar, ist aber ein wichtiges Signal: Mit ihm ist weiterhin zu rechnen. Er werde Europa dort dienen, wo er "am nützlichsten" sei, sagte Michel am Wochenende. Die 27 Staats- und Regierungschefs werden sich nach den Europawahlen zusammensetzen, um über die Jobs an der Spitze von Kommission, Rat und Parlament zu beraten. Michel hofft möglicherweise auf das Amt des Parlamentspräsidenten. Aber da sein Selbstbewusstsein so groß ist wie sein Mitteilungsbedürfnis, kann man die Spekulationen noch ein wenig weiterdrehen.

Sollten die Staats- und Regierungschefs sich nicht darauf einigen können, Ursula von der Leyen neuerlich als Kommissionspräsidentin vorzuschlagen - könnten sie sich dann auf einen Mann verständigen, den sie in den vergangenen fünf Jahren bestens kennengelernt haben: auf Charles Michel?

Michel bringt die EU mit seinem Schritt in Verlegenheit

Zugegeben, es ist eher unwahrscheinlich, dass dieses Amt an die liberale Parteienfamilie fällt. Christdemokraten und Sozialdemokraten dürften den Top-Job unter sich ausmachen. Andererseits kam auch die Personalie von der Leyen nach den Wahlen 2019 aus dem Nichts. In jedem Fall richtet sich der Blick nun umso mehr auf die Kommissionspräsidentin: Bewirbt sie sich, wie zu erwarten, als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) für eine zweite Amtszeit?

Von der Leyen lässt sich nicht hetzen. Ursprünglich wollte sie sich schon im Dezember, spätestens aber rund um den Jahreswechsel zu ihren Plänen äußern. Nun lautet die Sprachregelung: "Irgendwann vor den Parteitagen" wolle sie sich erklären. Das ist hinreichend unbestimmt, denn der Nominierungsparteitag der EVP findet erst am 6. und 7. März in Bukarest statt. Die Kommissionspräsidentin will die EU-Geschäfte so lange wie möglich führen, ohne sich in parteipolitische Händel zu verstricken - so wie Charles Michel es nun tut.

Michel bringt die EU mit seinem Schritt in Verlegenheit. Sein Job ist es, die Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs zu koordinieren und zu leiten. Auch deshalb läuft seine Amtszeit bis November - der Ratspräsident soll den Übergang zwischen den beiden Legislaturperioden moderieren. Nun aber muss Michel sein Amt schon Mitte Juli niederlegen, nach seiner Vereidigung als Abgeordneter. Sollte bis dahin kein Nachfolger für ihn gefunden sein, könnte laut EU-Regeln Viktor Orbán den Job provisorisch übernehmen, denn die ungarische Regierung hat ab Juli die rotierende Ratspräsidentschaft inne.

Seit "Sofagate" gilt Michel mindestens als Tollpatsch

Ausgerechnet Viktor Orbán, der Putin-Freund? Die anderen Staats- und Regierungschefs können sich mit einfacher Mehrheit auf eine andere Übergangslösung verständigen. Dennoch bleibt der Eindruck haften: Michel nimmt die eigene Karriere wichtiger als das Wohl der EU.

Das öffentliche Bild von Charles Michel hat sich seit 2019 in Abgrenzung zu Ursula von der Leyen geformt, und das Urteil fällt eindeutig aus: Michel war der Verlierer. Das ist spätestens seit dem 6. April 2021 der Fall, seit "Sofagate": Bei einem gemeinsamen Besuch in der Türkei nahm Charles Michel wie selbstverständlich neben dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Platz - und die mitreisende Kommissionspräsidentin musste sich abseits davon mit einem Platz auf einem Sofa zufriedengeben, ohne dass Michel Widerstand geleistet hätte.

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Seither gilt Charles Michel vielen in Brüssel mindestens als Tollpatsch, wenn nicht als Wichtigtuer. Er geriet zudem in die Schlagzeilen durch seine vielen Dienstreisen kreuz und quer durch die Welt, für die er teure Privatflugzeuge nutzte. Michel rechtfertigt sich damit, er habe angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine überall in der Welt um Verständnis für Europas Haltung werben müssen. Das sei sein Job.

Um Michels Karriere müsse man sich keine Sorgen machen, sagt ein Vertrauter

Den Job hat er wohl alles in allem besser gemacht, als es sein Ruf vermuten ließe. Dass Viktor Orbán beim letzten Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember den Weg für Beitrittsgespräche mit der Ukraine freimachte, war neben Kanzler Olaf Scholz auch Charles Michel zu verdanken. Aber wie es seine Art ist, reklamierte er diesen Erfolg sehr viel wortreicher für sich, als Scholz es tat.

Charles Michel, 48 Jahre alt, hat in seiner politischen Laufbahn viele Altersrekorde gebrochen. Er war jüngster belgischer Abgeordneter, jüngster belgischer Minister, jüngster belgischer Regierungschef, jüngster Präsident des Europäischen Rates. Um diesen Mann müsse man sich keine Sorgen machen, zitiert die belgische Zeitung Le Soir einen seiner Vertrauten. Wenn es um seine persönliche Karriere gehe, sei Charles Michel immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

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