Schweiz und EU:Beziehungsstatus: kompliziert

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Anders als die Bewohner dieser Zürcher Wohnung sind nicht alle in der Schweiz Fans der EU. (Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Der Abbruch der Verhandlungen 2021 war peinlich, jetzt wollen die Schweiz und die EU ihr Verhältnis durch ein neues Abkommen ordnen. Warum eine Einigung auch diesmal schwierig ist.

Von Isabel Pfaff, Bern

Es war ein düsterer Tag Ende Mai 2021, als die Schweizer Regierung vor die Medien trat und den Abbruch der Verhandlungen mit der EU verkündete. Nach sieben Jahren Verhandlungen fand die Schweiz, dass der existierende Entwurf eines gemeinsamen Abkommens nicht den Interessen des Landes entspreche. Entsprechend groß war der Frust in Brüssel über dieses kleine Land, das seit vielen Jahren von einem maßgeschneiderten Verhältnis zur EU profitierte - und jetzt recht umstandslos Nein zu dem Versuch sagte, die komplizierten Beziehungen neu zu ordnen.

Nun, fast drei Jahre später, ist die Stimmung zwischen Bern und Brüssel besser. Es gibt sogar die Aussicht auf einen neuen Verhandlungsanlauf - und vor allem: einen raschen Abschluss. Bis Ende 2024 wolle man zu einer Einigung kommen, verkündeten beide Seiten im Dezember. Der Optimismus gründet auf zwei vor wenigen Wochen publizierten Dokumenten: dem Schweizer Entwurf eines Mandats für Verhandlungen mit der EU, und dem EU-Mandatsentwurf für Verhandlungen mit Bern. Sobald die Dokumente offiziell beschlossen sind, kann es losgehen.

Die Schweiz pflegt rund 120 bilaterale Abkommen mit ihren EU-Nachbarn

Auch wenn das Ganze diesmal gut koordiniert und vorbereitet wirkt: Ob sich Brüssel und Bern wirklich einigen, ist nach wie vor offen. Denn das enge Verhältnis zwischen der Schweiz und den sie umgebenden EU-Staaten ist kein Automatismus. Es basiert auf rund 120, zum Teil jahrzehntealten bilateralen Abkommen. Sie ermöglichen, dass die Schweiz in vielen Bereichen weitgehend barrierefrei am Binnenmarkt teilnehmen kann, dass sich Bürger beider Gebiete im jeweils anderen niederlassen können, dass es eine Zusammenarbeit im Asylbereich, beim Grenzschutz und in der Forschung gibt.

Doch diese Zusammenarbeit ist kompliziert. Gibt es Veränderungen im EU-Recht, das die Schweiz betrifft, müssen die Abkommen einzeln aktualisiert werden. Auch gibt es keine Instanz, die entscheidet, ob beide Seiten die Abkommen richtig auslegen. Manche Differenzen bestehen deshalb schon seit Jahren.

Brüssel wünscht sich aus diesen Gründen schon lange eine Art institutionelles Dach für die bilateralen Verträge mit der Schweiz, und auch Bern zeigte sich früh offen für eine solche Idee. Vier Jahre lang tüftelten die Unterhändler an dem Entwurf eines institutionellen Rahmenvertrags, 2018 lag er schließlich vor: Bei den fünf Marktzugangsabkommen sollte die Schweiz demnach EU-Recht praktisch automatisch übernehmen.

Zusätzlich war ein paritätisch besetztes Schiedsgericht für Streitfälle vorgesehen. Doch die Schweiz zierte sich, wollte an einigen Punkten nachverhandeln. Anderenfalls, so befürchtete sie, könnte eine Volksabstimmung den Vertrag zu Fall bringen. In Brüssel brachte man für diese direktdemokratischen Besonderheiten immer weniger Verständnis auf - und schließlich brach die Schweizer Regierung das Ganze im Mai 2021 ab.

Rechtsbürgerliche Politiker machten effektiv Stimmung gegen einen Vertrag mit der EU

Das Verhältnis der eigentlich engen Partner lag derart in Trümmern, dass sie erst im März 2022 wieder Gespräche aufnahmen. Nun, 22 Monate, elf Sondierungsrunden und 46 technische Gespräche später, fühlen sich beide Seiten offenbar bereit für einen zweiten Anlauf. Diesmal hat man versucht, die noch strittigen Punkte zu lösen, bevor man in die eigentlichen Verhandlungen tritt.

Der Kern des neuen Ansatzes, der beide Mandatsentwürfe prägt: Statt eines Rahmenabkommens sollen die institutionellen Elemente nun in die einzelnen bilateralen Abkommen hineingeschrieben werden - eine Idee, die die Schweizer Seite in die Gespräche gebracht hatte. Diese institutionellen Elemente sollen sicherstellen, dass für alle Binnenmarktteilnehmer die gleichen Spielregeln gelten.

Ähnlich wie beim Rahmenvertrag geht es dabei um die quasi automatische EU-Rechtsübernahme, die einheitliche Auslegung der Abkommen, deren Überwachung sowie die Streitbeilegung. Letztere soll auch in dieser Variante ein paritätisch besetztes Schiedsgericht vornehmen, das in bestimmten Fällen den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hinzuzieht. Mit der Rolle des EuGH hatten rechtsbürgerliche Politiker in den vergangenen Jahren effektiv Stimmung gegen einen Vertrag mit der EU gemacht. "Fremde Richter", die sich in schweizerische Angelegenheiten einmischen: eine bewährte Drohkulisse in der Eidgenossenschaft.

Schweizer Gewerkschaften befürchten Lohndumping

Ein weiteres wichtiges Element der neuen Verhandlungen dürfte die von Brüssel eingebrachte Idee einer "Non-Regression-Klausel" werden. Damit ist gemeint, dass die Schweiz eventuelle künftige Anpassungen im EU-Entsenderecht nicht übernehmen muss, wenn diese das Schutzniveau der hohen Schweizer Löhne gefährden. Dieser Punkt geht auf Kritik ein, die vor allem von den Schweizer Gewerkschaften kommt: Eine zu enge Anbindung an die EU bedeute immer mehr entsandte Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland und resultiere letztlich in Lohndumping.

Bislang deutet wenig darauf hin, dass die neuen Vorschläge bei den traditionellen Kritikern eines Vertrags mit der EU auf Begeisterung stoßen. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) nannte den Mandatsentwurf der Regierung bereits "ein vergiftetes Weihnachtspaket", mit dem die Schweiz sich "der EU unterwerfen" würde. Sie hat angekündigt, jegliche Form der institutionellen Anbindung an die EU zu bekämpfen. Und auch Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, äußerte sich jüngst überraschend deutlich zum Mandatsentwurf: "Es besteht keine Chance, dass die Gewerkschaften dem vom Bundesrat präsentierten Paket so zustimmen", sagte Maillard in einem Interview.

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Es bleibt wohl zunächst bei der verfahrenen Situation, die eine Einigung schon beim letzten Mal unmöglich machte: In der Schweiz ist eine Neuordnung des Verhältnisses zur EU sowohl von rechts als auch von links unter Beschuss. In einem direktdemokratischen System ist das keine Lappalie. Denn selbst wenn sich Schweizer und EU-Unterhändler in diesem Jahr einig werden, dürfte das Verhandlungspaket früher oder später an der Schweizer Urne landen. Sind dann die Linke und die wählerstarke SVP weiterhin dagegen, wird es schwierig - schon wieder.

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