Europäische Union:Europa bekommt doch noch ein Lieferkettengesetz

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Wie weit reicht die Verantwortung von Unternehmen für ihre Zulieferer? Da die EU ihr Regelwerk geschliffen hat, nicht mehr so weit wie anfangs gedacht. (Foto: Christian Charisius/DPA)

Die EU-Mitgliedstaaten einigen sich auf ein deutlich abgeschwächtes Regelwerk. Die Mehrheit ist denkbar knapp - und Deutschland wird überstimmt.

Von Jan Diesteldorf und Roland Preuß, Brüssel

Der Zauber Brüssels liegt häufig darin, in einer scheinbar aussichtslosen Lage noch einen gangbaren Weg zu finden. In den vergangenen Wochen übten sich Vertreter der belgischen EU-Ratspräsidentschaft in dieser Kunst, als sie versuchten, das geplante Lieferkettengesetz zu retten. An diesem Freitag ist ihnen das nach mehreren erfolglosen Anläufen geglückt. Die Botschafter der Mitgliedstaaten votierten mit 17 zu zehn Stimmen für das Gesetz, das europäischen Firmen auferlegt, die Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren Lieferketten sicherzustellen. Bislang war es unter anderem an Deutschland gescheitert, wo die FDP das Gesetz ablehnt. Mangels Einigkeit in der Bundesregierung enthielten sich die Vertreter Deutschlands auch am Freitag der Stimme.

In dem Gesetz, das die EU-Kommission Anfang 2022 vorgestellt hatte, geht es um die grundsätzliche Frage, wie weit die Verantwortung von Unternehmen für ihre Zulieferer reicht - und bis zu welchem Grad sie für Rechtsverstöße in ihrer Lieferkette haften müssen. Wann sie also verklagt werden können, wenn Partner in den Tropen für ihre Produkte Regenwald roden oder sich Kinder in kongolesischen Kobaltminen vergiften. Die Zurückhaltung der EU-Staaten in diesen Fragen war so groß, dass sich vor gut zwei Wochen im Rat noch zwölf Länder enthielten und eines dagegen stimmte. Unter anderem hatten Italien, Frankreich und Deutschland ihre Enthaltung angekündigt, was im Ergebnis wie ein Nein wirkt.

An entscheidenden Stellen umgeschrieben

Die belgische Ratspräsidentschaft kam daraufhin insbesondere Frankreich und Italien entgegen, schrieb das Regelwerk an entscheidenden Stellen um und veränderte dessen Charakter komplett. Der in Verhandlungen mit dem Parlament erreichte Kompromiss war praktisch wertlos. Die Vertreter des Parlaments sind damit vor die Wahl gestellt: Entweder, sie nehmen hin, wie die Mitgliedstaaten das Gesetz hingebogen haben - oder es kommt gar nicht zustande. So ist die Karriere des EU-Lieferkettengesetzes auch eine Fallstudie über europäische Gesetzgebung, die an vielen Stellen intransparent ist und im Zweifel von den Mitgliedstaaten im Rat beherrscht wird. Unter denen war die Mehrheit am Freitag dann äußerst knapp.

Um die erforderliche Zustimmung von mindestens 15 Mitgliedstaaten mit einem Bevölkerungsanteil von mehr als zwei Dritteln der EU-Bürger zu erreichen, entschärften die Beteiligten das Gesetz an entscheidenden Stellen. Die aktuelle Fassung des Entwurfs liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Demnach wurde der Geltungsbereich stark eingeschränkt. Nach der Einigung im Dezember sollten sich noch Firmen mit mehr als 500 Mitarbeitern und mehr als 150 Millionen Euro Jahresumsatz nach dem Gesetz richten, jetzt liegen diese Grenzen bei 1000 Mitarbeitern und 450 Millionen Euro.

Außerdem stehen längere Übergangsfristen im Gesetz. Für Großunternehmen mit mehr als 5000 Beschäftigten und 1,5 Milliarden Euro Jahresumsatz gilt die Richtlinie drei Jahre nach Inkrafttreten, für Firmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern und 900 Millionen Euro Jahresumsatz nach vier Jahren. Für alle weiteren Unternehmen liegt die Schonfrist sogar bei fünf Jahren. Komplett weggefallen ist die Kategorie der Hochrisiko-Sektoren - diese hätten dazu geführt, dass sich auch etliche sehr kleine Unternehmen nach den Vorgaben hätten richten müssen. Dazu gehörten die Textilbranche, die Landwirtschaft, Nahrungsmittelwirtschaft, die Rohstoffindustrie und der Bausektor.

"Menschenrechte siegen über eine massive Lobbykampagne und FDP-Klientelpolitik."

Eng begrenzt sind auch die Haftungsregeln, die deutsche Wirtschaftsverbände strikt ablehnen. Nach dem jüngsten Entwurf sollen weiterhin Arbeitnehmer oder etwa Gewerkschaften EU-Firmen verklagen können, wenn diese "vorsätzlich oder fahrlässig" gegen die Richtlinie verstoßen, also etwa Menschenrechtsverstöße zu verantworten haben. Das gilt nur für eigene Vergehen und nicht, wenn diese "lediglich von Geschäftspartnern in deren Kette von Aktivitäten" verursacht wurden.

Damit wäre fast alles ausgeräumt, was Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und seine Partei an dem Regelwerk auszusetzen hatten. Dennoch blieben die Liberalen bei ihrer Ablehnung. Es sei der Partei zu verdanken, dass das Gesetz an vielen Stellen verbessert worden sei, sagte die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn. Dennoch, findet sie, "bleibt das Lieferkettengesetz praxisfern". Die Haftungsregeln außerhalb des eigenen Einflussbereichs seien zu unklar.

Bei den Befürwortern des Gesetzes war die Freude groß, etwa bei Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Er freue sich, dass es "heute endlich gelungen ist, eine gemeinsame europäische Lösung für faire Lieferketten zu finden", sagte er. Heil hatte die Richtlinie federführend für die Bundesregierung verhandelt und versucht, die FDP noch mit einem Kompromissvorschlag zu überzeugen. Das fruchtete nicht. Die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses im EU-Parlament, Anna Cavazzini (Grüne), sagte: "Menschenrechte siegen über eine massive Lobbykampagne und FDP-Klientelpolitik." Allerdings, so bemängelte sie, hätten Deals zwischen Regierungen und immer weitere Abschwächungen des Textes "das etablierte Gesetzgebungsverfahren missachtet und das Europaparlament düpiert".

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