Es gibt in Brüssel nach wie vor Menschen, die Angela Merkel nachtrauern. Sie hat als Kanzlerin in vielen Gipfelnächten Kompromisse geschmiedet und hat es immer wieder verstanden, Viktor Orbán einzubinden. Wegen ihrer ostdeutschen Herkunft habe sie einen besonderen Draht zu dem Ungarn, hieß es. Ihr Nachfolger Olaf Scholz galt bislang, was die Arbeit in der Brüsseler Kompromissmaschine betrifft, als Totalausfall. Und nun, wer hätte das gedacht: Scholz, der zögerliche Hanseat, gilt auf einmal als Orbán-Versteher, als Brüsseler Macher.
Der Merkel-Moment von Olaf Scholz kam so unverhofft, dass selbst Leute aus seiner Delegation am Donnerstag gegen halb sieben noch klagten, die Verhandlungen über die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine seien zurzeit ziemlich verfahren. Der Bundeskanzler habe gerade das Sakko abgelegt und seinen Pullover angezogen, das sei ein Zeichen: Es könne noch lange dauern. Und im selben Moment wurde aus dem Verhandlungssaal gemeldet: Die EU eröffnet Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau.
Scholz selbst sprach nach dem Ende des Gipfels von einer "historischen Entscheidung". Die Ukraine und Moldau sind mit dem Beschluss ein Stück näher an die Europäische Union herangerückt, auch Bosnien-Herzegowina erhielt ermutigende Signale, und Georgien ist nun offiziell Beitrittskandidat. Das ist ein großer Schritt auf dem Weg zur Erweiterung der EU. Und ermöglicht hat ihn Kanzler Olaf Scholz mit einem eleganten diplomatischen Kniff.
Das Verfahren wurde zum ersten Mal überhaupt angewendet
Die anderen 26 Staats- und Regierungschefs hatten Viktor Orbán offenbar weichgekocht, indem sie bedingungslos darauf beharrten: Europa müsse der Ukraine, von den USA alleingelassen vor dem Kriegswinter, ein Zeichen der Solidarität geben. Niemand nahm die Einwände von Orbán ernst, und der Ungar leistete offensichtlich nur noch Widerstand, um nicht als Verlierer dazustehen. So wird das aus dem Verhandlungssaal berichtet. Da kam von Olaf Scholz der Vorschlag an Orbàn: Er solle doch kurz den Raum verlassen, dann habe er mit der Sache nichts mehr zu tun. Und Orbán nahm das Angebot an. Er ging.
Als Ratspräsident Charles Michel dann nach Einwänden gegen die Gipfelbeschlüsse zur Erweiterung fragte, meldete sich niemand. "Stimmenthaltung steht der Annahme von Beschlüssen, für die Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegen", steht in den Regeln des Rats geschrieben. Das Verfahren, das es so zum ersten Mal überhaupt gab, war offensichtlich legal.
Konsens falle nicht vom Himmel, sagte Scholz am Tag danach, man müsse ihn ermöglichen. "Im Sinne eines unionsfreundlichen Verhaltens" habe er Orbán diese Lösung vorgeschlagen. "Ich habe ihm gesagt, er solle sich das überlegen. Er hat es sich überlegt, und dann hat er mir gesagt, dass er den Vorschlag aufgreift." Von einem "Trick" wolle er nicht reden, sagte Scholz. Das sei ein legitimes Verfahren, aber nur für besondere Notlagen geeignet.
Scholz kennt den Trick schon seit Juso-Zeiten
Olaf Scholz wirkte in der Pressekonferenz gut gelaunt und sehr gesprächig. Sehr klar stellte er seinen Beitrag am Erfolg des Gipfels heraus. Auch in den Haushaltsberatungen in der Ampelkoalition habe sich seine Art der Verhandlungsführung ja bewährt, sagte er. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schien eine etwas andere Sicht auf die Ereignisse zu haben: Orbáns Einlenken sei ein Gemeinschaftswerk aller gewesen, sagte er. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte dagegen war sehr eindeutig, wem das Verdienst gebühre: "Olaf!" Und er fügte hinzu, manchmal gebühre das Lob tatsächlich dem deutschen Kanzler. Ein Hauch von Ironie lag wohl durchaus darin: Schließlich stand Scholz bislang nicht im Ruf eines erfolgreichen Europapolitikers.
Den Ausweg, gewünschte Abstimmungsergebnisse herbeizuführen, indem man Abweichler vor die Tür schickt, kennt Olaf Scholz seit seinen Zeiten als Juso. Wer nicht an einer Abstimmung teilnimmt, lässt der Mehrheit seinen Willen und kann doch sein Gesicht wahren. Das war auch der Sinn der Sache an diesem Donnerstag. Vor dem Gipfel hatte Olaf Scholz mit Michel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vereinbart, man müsse Orbán im richtigen Moment einen "würdevollen" Ausgang aus der Sackgasse bieten, in die dieser sich manövriert hatte. Und Olaf Scholz hatte im richtigen Moment die richtige Idee.
So steht der Orbán-Exit von Olaf Scholz nun in einer Reihe mit den von Merkel geschmiedeten Kompromissen in der Euro-Krise ab 2010, in der Griechenland-Krise 2015, bei der historischen Einigung auf den Hunderte Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds im Juli 2020. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij bedankte sich noch in der Nacht überschwänglich bei Olaf Scholz für dessen Solidarität und dessen Führungsstärke.
Der Beschluss könnte ein Vorgeschmack auf die Zukunft sein
Die deutsche Unterstützung für die Ukraine werde von Tag zu Tag größer, schrieb Selenskij, und das ukrainische Volk werde sich immer daran erinnern. Das ist eine unverhoffte Wendung, nachdem die Bundesregierung zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine noch als unsicherer Kantonist im europäischen Lager gegolten hatte und Scholz den Titel des Zauderers verliehen bekam.
Ein Erfolg ist der Gipfel in Brüssel für Olaf Scholz auch, weil der Beschluss von Donnerstag auf das hinausläuft, was sich der Kanzler als wesentlichen Teil der EU-internen Reformen vorstellt. Mit neuen Mitgliedern im Europäischen Rat, findet er, müsse das Einstimmigkeitsprinzip in außenpolitischen Fragen und Haushaltsangelegenheiten fallen. Seit diesem Donnerstag ist klar: Mehrheitsbeschlüsse funktionieren auch jetzt schon - zumindest wenn Abweichler zum Kaffeetrinken gehen.
Der Scholz-Kniff funktionierte auch am Donnerstagabend nur dieses eine Mal. Ungarns Ministerpräsident blieb bis in die Nacht hinein stur bei seiner Blockade der Ukraine-Hilfen, die nach dem Plan der EU-Kommission im europäischen Haushalt festgeschrieben werden sollen. Damit wäre erstens genau festgelegt, welches Land wie viel davon zu schultern hat. Und zweitens wäre die finanzielle Unterstützung Kiews bis in das Jahr 2027 hinein gesichert. Das politische Signal wäre so eindeutig wie jenes der Beitrittsgespräche: Europa steht geschlossen zur Ukraine, als geopolitische Kraft.
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Ob es der EU noch gelingt, dieses Signal zu senden, wird sich nun auf einem Sondergipfel im Januar entscheiden. Wobei Viktor Orbán nicht erkennen lässt, dass sich an seiner Haltung etwas ändern könnte. "Sie wollen das Geld der Ungarn zur Fortsetzung des Krieges verwenden", sagte er am Freitagmorgen im staatlichen Rundfunk. Er verlangt nun als Gegenleistung für seine Zustimmung, dass alle bislang gesperrten EU-Gelder für Ungarn freigegeben werden.
Zumindest hat die Ukraine jetzt schon eine feste Zusage für 50 Milliarden Euro bis 2027, davon 17 Milliarden als direkte Zuschüsse. Das geht hervor aus einer Mitteilung, die Michel am frühen Morgen verschickte. 26 EU-Staaten unterstützten die Überarbeitung des gemeinsamen Haushalts, heißt es darin, mit insgesamt 21 Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln. Im Januar wird Michel die Staats- und Regierungschefs erneut nach Brüssel einladen, um eine Lösung zu finden. Notfalls will die Allianz der 26 die Ukraine-Hilfe außerhalb des Haushalts auf den Weg bringen. Aber besser wäre Einstimmigkeit. Olaf Scholz wird sich vielleicht schon im Januar wieder als Orbán-Versteher bewähren müssen.