EU-Gipfel in Spanien:Keine Zeit für andere Fragen

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Spaniens Premierminister Sánchez begrüßt seine italienische Amtskollegin Meloni - die sich dann besonders gut mit dem britischen Kollegen Sunak versteht. (Foto: Thomas Coex/AFP)

Es sollte der Auftakt zur EU-Erweiterung werden, auf dem informellen Gipfel in Granada beherrscht aber wieder die Migration die Gespräche. Zwei Länder blockieren. 

Von Jan Diesteldorf, Granada

Über dem Gipfel, auf dem Sabikah-Hügel in Granada, thront die Alhambra, das berühmte Zeugnis der hohen Kunst muslimischer Herrscher in Europa. Wo am Donnerstagabend gut 40 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) durch das Areal der Festung spazierten und im Beisein von Spaniens König Felipe IV. einer Flamenco-Künstlerin lauschten, regierten bis 1492 die Nasriden das Emirat Granada. Es war die letzte maurisch-muslimische Dynastie im heutigen Andalusien.

Dort sollten das Spitzentreffen der Länder Europas am Donnerstag und der EU-Gipfel am Freitag stattfinden, so hatten es sich die Spanier überlegt. Aber der Ort war zu klein für so viele Menschen, und er ist zu sehr Weltkulturerbe, um ihn für riesige Politkonferenzen herzurichten. Man wich also aus auf das Kongresszentrum in der "Stadt des Friedens", wie Spaniens Premier Pedro Sánchez Granada anpries.

Auf den unzuverlässigen Premier Ungarns war wieder Verlass

Die Symbolkraft aber blieb, denn in der EU reden sie ja gerade viel darüber, wie man es schafft, dass weniger Muslime und überhaupt weniger Menschen aus dem Süden und Osten ankommen, die vor Gewalt flüchten oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben den Weg in eins der 27 europäischen Länder wagen. Zuletzt etwa auch auf die Kanaren, wo allein am Freitag seit Mitternacht 518 Migranten aus sechs Booten geborgen wurden. Mit Blick auf die kleine Insel El Hierro sprechen spanische Medien schon von "Spaniens Lampedusa".

So bestimmte das Thema Migration den informellen Gipfel am Freitag, der so heißt, weil dort keine offiziellen Ratsbeschlüsse gefasst werden. Neben den strategischen Prioritäten der EU standen die Erweiterungsdiskussion und die dafür nötigen Reformen auf der Tagesordnung. Ziemlich viel Stoff für sieben Stunden.

Auf den unzuverlässigen Premier Ungarns war insofern wieder Verlass, als er jede gemeinsame Sprache zur Migration von vornherein ablehnte, so wie schon beim jüngsten EU-Gipfel im Juni. "Es gibt keine Einigung bei Migration", sagte Viktor Órban. Politisch sei das unmöglich, "nicht für heute, sondern ganz allgemein gesprochen für die nächsten Jahre." Polen und Ungarn seien "rechtlich vergewaltigt worden", sagte er und meinte damit die am Mittwoch erzielte Mehrheit für die Krisenverordnung, die zum Kern der EU-Asylreform gehört. Polen und Ungarn hatten als einzige dagegen gestimmt.

Als Retourkutsche lehnten sie erneut jede Erwähnung des Themas in der Gipfelerklärung ab - Ratspräsident Charles Michel veröffentlichte dazu ein eigenes Statement. Im Entwurf hatte er zuvor einen eigentlich harmlosen Absatz formuliert: Es brauche einen umfassenden Ansatz gegen irreguläre Migration, Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern, den Schutz der Außengrenzen, einen entschiedenen Kampf gegen Schmuggler, Menschenrechte sind wichtig. Konsens eigentlich, bekannte Textbausteine, Evergreens.

Der Brite Sunak verkündet eine neue, enge Bindung zu Italien

Polen und Ungarn aber bestehen darauf, auch in Migrationsfragen nur noch einstimmig zu entscheiden. "Im Unterschied dazu ist es diesmal allen egal", sagte ein EU-Diplomat. "Im Juni waren andere Inhalte der Gipfelerklärung zu wichtig und die Blockade ein echtes Problem."

Verstimmt war am Vortag auch Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak, der die EPG-Treffen als Plattform nutzen will, in größerem Kreis unter europäischen Staats- und Regierungschefs über Migration zu sprechen. Auf der Tagesordnung standen dann aber Multilateralismus, Energiesicherheit und Künstliche Intelligenz. Statt an den Workshops teilzunehmen, saß Sunak am Nachmittag unter anderem mit Italiens Premierministerin Georgia Meloni und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Migrationsfragen zusammen.

Gemeinsam mit Meloni verkündete er am Freitag eine neue, enge Bindung der beiden. "Wir sind stolz darauf, dass Italien und Großbritannien hier gemeinsam vorangehen, denn in diesem und in vielen anderen Bereichen sind unsere Perspektiven und Ziele dieselben", schreiben Sunak und Meloni in einem Gastbeitrag für die Times.

Auch Bundeskanzler Scholz traf Meloni zum Gespräch - und distanzierte sich nach dem Gipfel von Deutschlands staatlicher Finanzierung der Seenotrettung. Der entsprechende Bundestagsbeschluss sei "nicht einem Antrag der Bundesregierung gefolgt", sagte Scholz. Auch das Auswärtige Amt hatte kürzlich betont, dass es den Beschluss nur umsetze. Dabei werden in diesem Jahr private Seenotrettungsorganisationen mit bis zu zwei Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt unterstützt.

Alles außer Migration diskutierten die Gipfelteilnehmer am Morgen en bloc. Die Erweiterungsdiskussion wurde entsprechend an den Rand gedrängt, auch wenn einige vor dem Treffen explizit dafür warben. Die Erweiterung sei "immer für beide Seiten ein großer Gewinn" gewesen, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die eine baldige Aufnahme der Ukraine für notwendig hält, aber konkrete Deadlines ablehnt.

Kanzler Scholz stört das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Steuerpolitik

Scholz mahnte EU-Reformen an und erinnerte an seine Kernforderungen. Er will das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Steuerpolitik abschaffen. Zudem solle künftig nicht mehr jedes Land einen EU-Kommissar stellen. Jeder wisse, sagte Scholz, dass Nettoempfänger von EU-Geldern nicht dauerhaft solche bleiben könnten. "Sondern sie werden dann auch zu Wachstumsprozessen in den Beitrittsländern mit beitragen müssen."

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Wenig Zeit blieb auch für die drängende Frage, ob die Finanzhilfen für die kriegsgeplagte Ukraine über 2023 hinaus gesichert sind. In ihrem überarbeiteten Haushaltsplan hat die EU-Kommission für die Ukraine 50 Milliarden Euro von 2024 bis 2027 vorgesehen. Darauf könnten sich die 27 EU-Staaten einigen, solange Ungarn beidrehte - wären nicht noch knapp 50 Milliarden Euro für andere Zwecke in dem Gesamtpaket, das die Kommission vorgeschlagen hatte.

Bei manchen sei offenbar "der Ehrgeiz noch nicht ausgeprägt genug", vorhandene Mittel umzuwidmen, sagte Scholz nach dem Gipfel. Deutschland lehnt eine Erhöhung des Haushalts über die Ukraine-Mittel weitgehend ab. Für die Ukraine muss gleichwohl bis Ende des Jahres eine Lösung her - Brüsseler Diplomaten sagen schon voraus, dass der EU-Gipfel im Dezember wieder eine der langen Nächte werde.

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