EU-Asylpolitik:Aufstand der Hardliner

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Der neue Migrationspakt kann auch ohne Ja aus Polen und Ungarn Gesetz werden. Ein syrischer Geflüchteter trifft am Hafen von Kalamata in Griechenland auf seinen Bruder. (Foto: Stelios Misinias/Reuters)

Polen und Ungarn lehnen auf dem EU-Gipfel jede gemeinsame Sprachregelung zur Migrationspolitik ab. Warum es den Ländern nicht nur um die Sache geht.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Manchmal hilft es ja, einmal über etwas zu schlafen. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel aber war nicht damit zu rechnen, dass die kurze Nachtruhe, die für die europäischen Staats- und Regierungschefs gegen zwei Uhr am Freitagmorgen begann, etwas ändern würde an der Auseinandersetzung: Auf der einen Seite 25 EU-Staaten, die von frohlockend bis zähneknirschend einen gemeinsamen, härteren Kurs in der Asylpolitik vorgeben wollten. So, wie ihn Ratspräsident Charles Michel vor dem Treffen in zwei Absätze im Entwurf der Gipfelerklärung hatte schreiben lassen. Auf der anderen: Polen und Ungarn, deren Regierungschefs Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán jedweden Satz zur Migration in dem einstimmig zu beschließenden Dokument ablehnten.

Dabei blieb es. Gegen 14 Uhr am Nachmittag war der Bruch amtlich, das Treffen endete, und die Abschlussverklärung enthielt kein Wort mehr zum Thema Asyl. Michels Sekretariat veröffentlichte die Passagen in eigenem Namen, inklusive einiger Sätze zu den Forderungen Polens und Ungarns. Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich nach dem Ende des Gipfels gelassen mit Blick auf die Ankündigung beider Länder, den Asylpakt nicht umsetzen zu wollen. "Ich habe erst einmal ein Grundvertrauen, dass eine in den Verträgen Europas vorgegebene Gesetzgebung auch von allen Beteiligten beachtet wird", sagte Scholz. Er mache sich keine großen Sorgen.

In Polen kann die Migrationspolitik wahlentscheidend sein

Am Vorabend hatten Michel, Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die beiden Blockierer noch zu Einzelgesprächen gebeten und versucht, sie umzustimmen. Am Freitag unternahm Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni den gleichen Versuch. Das hat schon oft funktioniert im Europäischen Rat - durch ein paar zusätzliche Worte in der Erklärung, mit Zusagen in anderen Politikbereichen, oft mit Geld. Diesmal waren die Optionen aber begrenzt. Und es schien den Vertretern beider Länder, die in Migrationsfragen absolute nationale Selbstbestimmung und zugleich EU-Entscheidungen mit Einstimmigkeit einfordern, auch nicht nur um die Sache zu gehen.

Morawiecki schaut bereits auf die Parlamentswahl im Herbst und nutzte den Gipfel, um sich in Szene zu setzen. Die Flüchtlingspolitik kann wahlentscheidend sein. Entsprechend brachte er eigene Forderungen mit nach Brüssel, forderte vor allem die Abkehr von einer gemeinsamen Asylpolitik. Und er kündigte eine Volksabstimmung über den Asylkompromiss an, den der Ministerrat vor drei Wochen ohne die Stimmen Polens und Ungarns beschlossen hatte. Die Leute sollten "offen abstimmen können, ob sie in sicheren Städten und Dörfern leben wollen, so wie das in Polen ist", sagte Morawiecki, "oder ob sie dem Druck der EU-Kommission nachgeben wollen, die unsere Art zu leben völlig verändern will."

Das ist nicht mehr als ein populistisches Versprechen, denn der Migrationspakt kann auch ohne Polen Gesetz werden. Und am Steuer sitzen die Mitgliedstaaten, nicht die Kommission. Gelingt im Jahresverlauf eine Einigung zwischen Rat und EU-Parlament, wäre die Reform der gemeinsamen Asylpolitik geglückt. Die Gipfelbeschlüsse sollten nur abstrakt einen politischen Rahmen abstecken.

Victor Orbán nutzt den Gipfel als politische Showbühne

Scholz bezeichnete den Anfang Juni beschlossenen Pakt als "großen Erfolg für Solidarität im Umgang mit Flucht und Migration in Europa". Der Kompromiss sieht unter anderem vor, dass Geflüchtete mit geringer Bleibeperspektive binnen zwölf Wochen ein Schnellverfahren durchlaufen sollen und sich währenddessen in Aufnahmelagern aufhalten müssen. Wenn die Zahl der Geflüchteten in Ankunftsländern zu stark steigt, sollen die anderen EU-Staaten künftig zur Hilfe verpflichtet sein. Eine Teil der Schutzsuchenden würde über einen Schlüssel auf die gesamte EU verteilt. Wer das ablehnt, soll für jeden nicht aufgenommenen Migranten 20 000 Euro zahlen müssen.

Victor Orbán erzürnt das. Er nutzte den Gipfel als politische Showbühne. Konkrete politische Forderungen hatte er nicht mit nach Brüssel gebracht, wohl aber jede Menge kämpferische Rhetorik. "Im Sitzungssaal spielte sich ein Migrationskrieg ab", sagte er im ungarischen Staatsradio. Brüssel wolle Ungarn dazu zwingen, "Migranten-Ghettos" einzurichten. Dagegen werde er sich wehren, und er habe nicht die Absicht, den Pakt umzusetzen.

Nicht zu vergessen: Wegen Rechtsstaatsverstößen hält die EU-Kommission aktuell 27,8 Milliarden Euro an Ungarn und 110,8 Milliarden Euro an Polen zurück, EU-Gelder, die beiden Ländern jeweils zustünden. Da ist den beiden nach wie vor jede Gelegenheit willkommen, Sand ins Brüsseler Getriebe zu streuen. Zu diesem Spitzentreffen der EU-Staaten ist ihnen das wieder einmal gelungen.

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