Das Politische Buch:Deutschlands vier Abhängigkeiten

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Zeitenwende ist mehr als ein Wort: Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober 2022 vor einem Kampfpanzer "Leopard 2" auf dem Truppenübungsplatz Bergen bei seinem Pressestatement. (Foto: Björn Trotzki/Imago)

Kriege, Krisen, Trump ante portas: Der Verteidigungsexperte Christian Mölling erklärt eingängig, was "Zeitenwende" konkret bedeutet, was eine "sicherheitspolitische Dekade" kosten würde und von welchen Glaubenssätzen sich Berlin verabschieden muss.

Rezension von Matthias Kolb

Ein Kennzeichen dieses Sachbuches ist die Klarheit. Gleich zu Beginn schreibt Christian Mölling, dass er jenen Lesern Anregungen zum Nachdenken geben will, "die sich nicht acht Stunden am Tag professionell" mit Sicherheitspolitik befassen. Mölling macht genau dies, und zwar als Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung und stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Die DGAP, ein parteipolitisch unabhängiger Thinktank, versucht täglich, was Mölling auf 200 Textseiten eindrucksvoll gelingt. Er beschreibt und bündelt drei Debattenräume - die Diskussion der politischen Entscheidungsträger, die öffentliche Debatte und den Stand der wissenschaftlichen Forschung. Keinen Zweifel lässt er daran, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine Europa radikal verändert und Deutschland "erpressbar und verwundbar" zurückgelassen hat.

Deutschland brauche "glaubhafte Verteidigungsfähigkeit"

Also gibt er zehn nachvollziehbare Empfehlungen und fordert eine "sicherheitspolitische Dekade". Milliarden müssen nicht nur investiert werden, damit die Bundeswehr eine "glaubhafte Verteidigungsfähigkeit" erhält, die den eigenen Ansprüchen und jenen der Nato entspricht. Wichtig sei es auch, Infrastruktur zu modernisieren und die Bevölkerung zu sensibilisieren. Denn Russland will die europäische Sicherheitsordnung zerstören, weshalb Konflikt - "oberhalb der Schwelle des Friedens und unterhalb der Schwelle des offenen Krieges" - der Dauerzustand bleiben wird. Cyberangriffe, Fake-News-Kampagnen und Sabotage gehören schon jetzt zum Alltag. Deutschland braucht also "ein Verständnis von Frieden, das sich nicht mit der Abwesenheit militärischer Gewalt zufriedengibt".

In neun Kapiteln erklärt Mölling die Zusammenhänge. Er betont, was in Berlin zu oft vergessen wird: Deutschland beeinflusst mit seiner wirtschaftlichen Stärke immer den Rest Europas, auch wenn es keine Entscheidungen trifft. Sich herauszuhalten, gehe nicht mehr. Daher empfiehlt der DGAP-Experte auch, sich intensiv mit Taiwan zu beschäftigen und nicht anzunehmen, einen Konflikt zwischen China und den USA aussitzen zu können.

Christian Mölling: Fragile Sicherheit. Das Ende des Friedens und die neue Konfliktordnung. Herder Verlag, Freiburg 2023. 224 Seiten, 20 Euro. (Foto: Herder)

Mölling identifiziert vier deutsche Abhängigkeiten. Die erste ist der einstige Fokus auf Russland als Energielieferant. Die zweite ist die Abhängigkeit von China als Markt für Unternehmen sowie als Teil von Lieferketten. Bei der militärischen Sicherheit verlässt sich Berlin nahezu vollständig auf die USA. Sollte Donald Trump 2025 ins Weiße Haus zurückkehren, könnte die Nato-Führungsmacht weniger Verantwortung übernehmen. Das wäre für die Europäer sehr teuer und würde sie viele Jahre verwundbar machen.

Hinzu kommt die Abhängigkeit von der EU. Gewiss: Deutschland profitiert vom Binnenmarkt, aber hierzulande weiß man kaum, wie präsent die Sorge vor deutscher Dominanz unter den Nachbarn weiterhin ist. Daher ist die Einbettung in die EU-Strukturen so wichtig. Wenn die EU-Staaten wegen innerer Spannungen Reformen vertagen und immer seltener Konsens finden, schadet dies vor allem Deutschland.

Nationale Alleingänge bringen nichts

Dass Militär künftig wichtiger wird, ist unstrittig. Für die Politiker in Deutschland ist dies hart: Mit dem Einsatz von Macht und Gewalt hat man sich vor dem 24. Februar 2022 kaum beschäftigt. Nun muss die Bundesrepublik "ohne eigene Vorstellung und ohne historische Erfahrung, wie es denn gelingen kann, ihre politische Macht richtig einsetzen".

Mölling, der auch in Frankreich und Großbritannien geforscht hat, warnt vor nationalen Alleingängen und hofft, dass die Russland-Politik aufgearbeitet wird. Denn überrascht konnte man vom vollumfänglichen Angriff Putins auf die Ukraine nicht sein: Warnungen gab es mehr als genug. Zugleich verfolgte Berlin lange widersprüchliche Ziele: Wie soll man gleichzeitig billige Energie aus Russland beziehen können und in der EU für Einigkeit sorgen, wenn man die Warnungen der Balten und Polen vor Putins Revanchismus abtat? So ging viel Glaubwürdigkeit verloren.

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Wie in seinen vielen Interviews wirbt Mölling auch im Buch dafür, Kiew weniger zögerlich mit militärischem Gerät zu unterstützen, die Zeitenwende umzusetzen und die Bundeswehr schlagkräftiger zu machen. Dies sei zwar teuer, aber langfristig lohne es sich sehr - unter anderem, weil die EU den Wiederaufbau der Ukraine finanzieren muss. "Je effektiver Russland abgeschreckt werden kann, desto sicherer sind auch die finanziellen Investitionen", argumentiert er.

Mehrmals warnt Mölling davor, zu vergessen, dass die Klimakrise "die größte Sicherheitsbedrohung" bleibe. Die bestehenden Risiken würden dadurch vervielfacht. Dass "Fragile Sicherheit" zwei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel erschien, nimmt dem Buch nichts von seiner Qualität. Was seither geschah, ist vielmehr ein Argument dafür, dass sich mehr Deutsche mit Sicherheitsfragen beschäftigen. Es müssen ja nicht acht Stunden am Tag sein.

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