Das Politische Buch:Gegen die Regeln im Spitzel-Staat

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Ohnmächtig gegen den Staat, aber mit viel Kraft: Matthias Domaschk (rechts) mit Freunden auf einer Wanderung im Jahr 1976. (Foto: Wolfgang Diete/Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Sammlung "Matthias Domaschk")

Peter Wensierski gelingt mit seiner Erzählung über den ungeklärten Tod von Matthias Domaschk in Stasi-Haft 1981 ein starkes Panorama der letzten, bleiernen Jahre der DDR.

Rezension von Jens Schneider

Als die Freunde von Matthias Domaschk in Jena in jenen Apriltagen des Jahres 1981 erfahren, dass er tot ist, bleiben ihnen nur Zorn und Trauer. Sie wissen, dass die Staatssicherheit der DDR ihn aus einem Zug heraus verhaften ließ. Warum, das können sie nicht einmal erahnen. Sie erfahren nur, dass der 23-Jährige in Gera in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt zu Tode gekommen ist. Es heißt, er habe sich das Leben genommen. Aber warum sollen sie das glauben? Ein eigenwilliger, sanfter junger Mann, auf dem Weg zu einer Party in Ostberlin; einer, der mit Mut und Lebenslust eigene Wege geht, gegen die Regeln der sozialistischen Obrigkeit.

Die Stasi überwacht die Trauerfeier mit vielen Beamten. Als eine Freundin von Domaschk weinend Tulpen niederlegt, spottet einer von ihnen: "Mädchen, du brauchst doch nicht so zu heulen!" So hat es Peter Wensierski für sein großartiges Buch recherchiert. "Ihr sollt in unseren Tränen ersaufen!", brüllt die junge Frau zurück. Freundinnen stimmen ein: "Was macht ihr Schweine überhaupt hier? Haut ab!" Auf dem Friedhof stehen zwei Welten gegeneinander, die eine tumb und mächtig, die andere ohnmächtig, aber mit viel Kraft.

Die Jugendszene in Jena war der Stasi verdächtig

Die Stasi-Offiziere lernt man hier über ihre eigenen Protokolle als kleingeistige Karriere-Kader kennen, die um ihren Posten bangen und Härte zeigen müssen. Als ihr Staat zusammenbrach, sind sie nicht in den Tränen der DDR-Opposition ersoffen. Einige haben es sich, das ist in diesem Buch nachzulesen, später kommod eingerichtet im wieder vereinten Deutschland. Einzelne bereuen spät ihre Verstrickung. Fünf Tage nach dem Mauerfall gibt einer der Vernehmer von Domaschk einen Zettel bei seinem Vorgesetzten ab, er beklagt, seine sozialistischen Ideale seinen durch die Führung der Partei und das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, missbraucht worden, und schreibt: "Auch ich habe als Mensch versagt."

Jugendliche, die leben wollten und was erleben: Matthias Domaschk (fünfter von links) 1975 mit Freunden bei einer Wanderung bei Jena. (Foto: Wolfgang Diete/Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Sammlung "Matthias Domaschk")

In den Jahren danach haben Freunde und Weggefährten alles darangesetzt, die Umstände seines Todes aufzuklären, damit die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Es gab Ermittlungen, auch ein Verfahren gegen Stasi-Mitarbeiter, geringe Geldstrafen wegen "Beihilfe zur Freiheitsberaubung". Keiner hatte im Gericht ein Wort des Bedauerns übrig. In Thüringen trägt heute das Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" seinen Namen. Aber wie kam es zu seinem Tod, was ist damals geschehen?

Der Journalist Peter Wensierski hat sich über Jahre mit dem Geschehen in der DDR beschäftigt, schon in den Jahren, als die SED sich noch sicher an der Macht wähnte. Er hat die Graswurzelbewegung der Opposition erlebt und die Methoden des Machtapparats. Jetzt hat er den Fall Domaschk akribisch recherchiert, Gespräche mit 160 Zeitzeugen geführt, zudem mit 30 ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit, 60 000 Seiten an Akten durchgearbeitet. Vordergründig ist dies die Recherche eines ungeklärten Falls von der Art, die man heute "Cold Case" nennt. Tatsächlich aber viel mehr: eines der besten Bücher über das untergegangene Land, ein vielschichtiger Blick auf die DDR in ihrem bleiernen letzten Jahrzehnt.

Peter Wensierski: Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk. Verlag Ch. Links, Berlin 2023. 368 Seiten, 25 Euro. E-Book: 18,99 Euro. (Foto: Ch. Links Verlag)

Dazu gehören Schilderungen der unangepassten alternativen Szene in Jena - zu der etwa auch Roland Jahn gehörte, der zuletzt die Stasi-Unterlagenbehörde leitete - genauso wie in die Chronik eingeflochtene Porträts von Domaschks Eltern, Freunden und Freundinnen, aber auch von Stasi-Offizieren. Ihre zugleich piefige und paranoide Welt zeigt sich beim Blick auf ihre Motive, als sie Domaschk und einen Gefährten aus dem Zug holen und endlos verhören, weil sie Erfolge vorweisen müssen. Stasi-Offiziere, die Verschwörungen wittern, weil sie nicht verstehen, dass es den jungen Leuten darum geht, ein Leben nach eigenen Idealen zu führen.

Die nach Nähe heischende Sprache hätte es nicht gebraucht

Wensierski erkundet, wie sie unabhängig von den Regeln der Behörden Bands gründen, Feten und Jugendtreffs organisieren wollen, frechen Protest gegen den Staat wagen - und in vielem der alternativen Bewegung im Westen ähneln. Zum Vorschein kommt eine lebensfrohe Szene, deren Mut eine lebensnotwendige Selbstverständlichkeit ist - wie sollten sie sonst leben?

Beim Blick auf ihre Welt allerdings stört eine schmerzliche Schwäche dieses Buchs: In seinem Wunsch, das Lebensgefühl einzufangen, bemüht Wensierski eine nach Nähe heischende Sprache, die in ihrer Putzigkeit eine Zumutung ist, anstatt seine Recherchen für sich sprechen zu lassen.

Ging seine eigenen Wege: Matthias Domaschk im März 1977 in Bad Frankenhausen. (Foto: Wolfgang Diete/Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Sammlung "Matthias Domaschk")

Es beginnt damit, dass er Domaschk unentwegt "Matz" nennt und seine Gefährten bei ihren Spitznamen wie in einem flott gemeinten Jugendbuch der Siebziger des vorigen Jahrhunderts. Das wirkt eher drollig, als dass es verbindet. Auch hätte er dem Leser etliche Schilderungen ersparen können wie jene, in der Matz auf einer Holzkiste sitzt, "ein Bier in der Hand, eine Karo im Mundwinkel. Lässig. Die Blicke der Mädchen sind ihm sicher". Oder: "Wir sind geboren, um frei zu sein, dröhnt es in seinem Kopf. Draußen auf der Straße blendet die Sonne, raus in die Stadt!"

Man möchte den Blick abwenden und das Buch weglegen ob vieler solcher Stellen, und kann sich doch der so beeindruckend recherchierten Geschichte nicht entziehen, die so ein umfassendes, auch beklemmendes Bild des grauen SED-Staats zeichnet - und jener Gegenwelt, in der nach dem Tod von Domaschk viele erst recht rebellierten.

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