Das Politische Buch:Russisch-chinesische Beziehung unter der Lupe

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Viel Platz für schöne Bauwerke: Das alte sowjetische Grenztor (links) an der Eisenbahnlinie und das neue chinesische Grenztor (rechts) unterscheiden sich ziemlich. (Foto: Imago)

Sören Urbansky schaut in seiner großen Studie nicht auf Moskau und Peking, sondern auf Sabaikalsk und Manzhouli am Grenzfluss Argun. Und zeigt auf faszinierende Weise, wie große Politik auf die Bewohner fern der Machtzentren wirkte - oder auch nicht.

Rezension von Renate Nimtz-Köster

Eine Bahnfahrt von Moskau nach Peking gab den Anstoß: Als der Student Sören Urbansky im Sommer 2002 in der staubigen Kleinstadt Sabaikalsk an der russisch-chinesischen Grenze ausstieg, hatte er sein künftiges Forschungsthema entdeckt. Der russische Vorposten in der Steppe, nur wenige Schritte vom verrosteten Zaun entfernt, inspirierte den Historiker zur Erkundung des Lebens am Argun, dem Quellfluss des Amur. Das Herzstück der einst längsten Landgrenze der Welt mit seinen offenen Graslandschaften und Taigawäldern war jahrhundertelang eher Verbindung als Trennung seiner Bewohner, Nomaden und sesshafte Völker. Der Fluss verband beide Ufer, statt sie zu trennen.

Russische Kosaken am Argun jagten jenseits, auf chinesischem Gebiet und pachteten Grasland von burjatischen Mongolen zur Heugewinnung für ihre Pferde. Chinesen und Tungusen jagten an beiden Ufern, Chinesen schürften dort nach Gold. Vielseitig und mehrsprachig waren die Kontakte mit den Menschen von der jeweils anderen Seite. Chinesen ließen sich taufen und heirateten russische Frauen, viele sprachen fließend Russisch. Man behalf sich beim Kontakt auch mit Pidgin-Sprachen. Erst als die Grenze Ende des 19. Jahrhunderts geopolitisch bedeutsam wurde, endete dieses freie Miteinander der europäischen und asiatischen Kulturen. Imperiales Streben, wechselnde Freundschaft und Feindschaft der Machtzentren in Moskau und Peking, willkürliche Teilung und Kontrolle an der gemeinsamen Grenze lösten Umbrüche aus.

Ein "radikal neuer Blickwinkel" auf Geschichte

Wie kamen die Menschen beidseits des Argun, in einem Gebiet so groß wie Georgien, damit zurecht? Zu dem "vielschichtigen Aushandlungsprozess" bestehe eine Forschungslücke, sagt Urbansky, der zuletzt am Deutschen Historischen Institut in Washington forschte und seit 2023 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum ist. Sein Buch "Steppengras und Stacheldraht" soll diese nun füllen.

China Russland (Foto: SZ-Grafik: luda)

Dabei biete die "Studie", wie Urbansky sein 440 Seiten umfassendes Werk nennt, für das er eine Fülle bisher unbekannter Quellen nutzte, einen "radikal neuen Blickwinkel": Bisherige zentristische Analysen sähen vor allem die Imperien als Machtzentren an. Urbansky betrachtet Geschichte "durch die Lupe". Er zoomt in einen Abschnitt der riesigen Grenzregion hinein und erkennt auch die Grenzbevölkerung "als geschichtlich Handelnde" an. So ist ein mikrohistorisches Panorama entstanden, das den Alltag russischer, chinesischer, mongolischer Grenzbewohnerinnen (Urbansky gendert beliebig) lebendig macht.

Tradition war stets wichtiger als nationale Vorstellungen

Versuche der Abschottung waren in der Region schon früh gescheitert: Mit einem Erdwall, der sich rund 500 Kilometer von der heutigen Ostmongolei nach China und Russland schlängelte, hatten sich Herrscher der Jin-Dynastie im 12. und 13. Jahrhundert vergeblich gegen Mongolen und Tataren zu schützen versucht. Am Rand des russischen Grenzstädtchens Sabaikalsk etwa sind Überreste dieser ersten Befestigung zu erkennen. Russland und China zogen ihre Grenzlinien vor drei Jahrhunderten. Kleine Steinhaufen markierten die durchlässige Grenze, bis sie im 20. Jahrhundert zu einer von Wächtern und Zollbeamten kontrollierten Barriere wurde. Ihre neue, nationalstaatliche und geopolitische Bedeutung, die mit bewaffneten Konflikten und politischer Unterdrückung einherging, veränderte das freie Leben im Argunbecken. Ob mit Schmuggel in großem Maßstab oder mit Aufständen wie denen des mongolischen Adligen Tochtogo oder des Kosakenrebellen Grigorij M. Semjonow - immer wieder gelang es der Bevölkerung, Einschränkungen zu umgehen. Die Grenzbewohner "blieben ihren Traditionen mehr verhaftet als irgendeiner nationalen Vorstellung" (Urbansky). Der Bau der Transsibirischen und der Ostchinesischen Eisenbahnen förderte Kontakte zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religionen und Kulturen.

Shoppingparadies für Russen: In Manzhouli ist man mit riesigen Matrjoschkas und Fabergé-Eiern auf Kundschaft gut vorbereitet. (Foto: Ren Junchuan/Imago)

Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb die große Handelsmesse nahe dem buddhistischen Kloster von Gandschur ein zentraler Ort für Pferde- und Rinderhandel, für Wolle, Leder und Fleisch, aber auch für Güter aus dem Fernen Osten wie Tee, Seide und Baumwolle. Die russische und die chinesische Armee erwarben hier einen Teil ihrer Tiere. In den Glanzzeiten der Messe, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, boten etwa 1500 chinesische Händler, darunter große Pekinger Unternehmen, Schuhe, Sättel, Leinen oder Satinjacken an. Etwa 400 russische Händler machten Geschäfte mit Äxten, Kesseln, Gegenständen aus Emaille, mit Wachskerzen und Wodka. Mongolen tauschten Korallen gegen Schafe, Kosaken erwarben den beliebten Muschelschmuck. Ein Plan des "Jahrmarkts" ("iarmarka") aus einer mandschurischen Zeitung von 1933 veranschaulicht die geordnete Aufstellung von Zelten und Jurten der verschiedenen Händlergruppen. Urbanskys Buch ist mit interessanten Schwarz-Weiß-Fotos ausgestattet, die historischen Seltenheitswert haben - oder vom Autor selbst stammen.

Rabiate Umgestaltung des Grenzlandes

Mit dem Untergang der Imperien der chinesischen Qing (1912) und der russischen Romanows (1917) versuchten die Nachfolgestaaten eine rabiate Umgestaltung des Grenzlandes. Die Schwäche der Republik China in den 1920er-Jahren ermöglichte ihren mongolischen Gebieten noch Eigenständigkeit. Wie in einem "Wespennest" (Urbansky) ging es indessen in Manzhouli zu, der chinesischen Zwillingsstadt von Sabaikalsk. Russischen Emigranten diente Manzhouli als erstes Refugium. Russische Kommunisten und Verteidiger des Zarenregimes trafen dort aufeinander.

Ganz nah dran: ein chinesischer Grenzbeamter vor dem bescheidenen Tor nach Russland. (Foto: Feng Li/Getty Images)

Stalins Terror machte auch vor dem Grenzgebiet nicht halt. "Stalin neutralisierte ethnische Minderheiten durch Zwangsumsiedlung oder durch Liquidierung": Hier ist dem Historiker die Sprache in die des Totalitarismus abgerutscht.

"Russen und Chinesen - auf ewig Brüder": Nach sowjetisch-chinesischen Konflikten im Grenzland flatterten in den 1950er-Jahren die Fahnen beider Länder an den Grenzstädten Manzhouli und Sabaikalsk. Doch die Freundschaftsinszenierungen währten nicht lange. Die Städte wurden zu den letzten, stacheldrahtbewehrten Übergängen zwischen den erneut verfeindeten Nachbarn. Dennoch, so Urbansky, gelang es nie, die Grenzbevölkerungen völlig zu isolieren.

Ein pompöses und ein kleines Grenztor

Erst mit den Perestroika-Jahren kam die Einsicht, dass statt teurer Kriege Ressourcen besser für Wirtschaftsreformen eingesetzt werden könnten. Die Grenze wurde wieder durchlässig. Russische "Kosakinnen" (Urbansky) und Burjaten, deren Vorfahren einst vor Kollektivierung nach China geflohen waren, konnten nun wieder ihre Verwandten auf der anderen Seite des Argun treffen.

Sören Urbansky: Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze. Aus dem Englischen von Daniel Fastner. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 440 Seiten, 40 Euro. E-Book: 35,99 Euro. (Foto: Hamburger Edition)

Heute sind das kleine russische und das pompöse chinesische Grenztor Sinnbilder der neuen Machtverhältnisse: hier das verschlafene Nest Sabaikalsk, dort die Boomstadt Manzhouli mit ihrer Hochhaus-Skyline. Die neue Freundschaft zwischen Moskau und Peking hat Manzhouli mit seinen riesigen Matrjoschkas und Fabergé-Eiern zum Shoppingparadies für Russen gemacht. Dennoch erinnerten Einreisevorschriften und Checkpoints an die Sowjetzeit, schreibt Urbansky. Selbst jetzt "können sich nicht alle Besucher und Grenzbewohnerinnen so frei zwischen den beiden Argun-Ufern hin- und herbewegen wie Kosaken und Nomadinnen vor hundert Jahren".

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