Die Bürokratie der Repression, ausbuchstabiert in einer Tabelle. Ausgedruckt 137 Seiten lang, darauf persönliche Details von mehr als 2000 Menschen, Angehörige des Volkes der Uiguren allesamt, zu Hause in China, im Kreis Karakax im südlichen Xinjiang, zwischen dem Karakorum-Gebirge und der Wüste Taklamakan. Besonderes Augenmerk richtet die Tabelle auf Hunderte Menschen, die alle eines gemeinsam haben: Sie wurden ihrem Alltag, ihrer Familie und ihrem Beruf entrissen und eingewiesen in Anstalten, die das Dokument "Schulungs-" oder "Ausbildungszentren" nennt. Das ist der Euphemismus der chinesischen Regierung für das gewaltige Netz von Internierungslagern, das sie in der Autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas errichtet hat, der Heimat der meist muslimischen Uiguren. Insgesamt, so schätzen Experten, sind dort mehr als eine Million Menschen inhaftiert.
Die Karakax-Liste wurde mehreren internationalen Medien, darunter die Süddeutsche Zeitung, zugespielt. Das Dokument, dessen aktuellster Eintrag aus dem März 2019 ist, spricht für mehr als 300 Personen eine Empfehlung aus, ob sie nach Ablauf ihrer einjährigen Internierung weiter eingesperrt oder aber aus den Lagern entlassen werden sollen. Umerziehungslager sind das, in denen die Menschen "deradikalisiert" werden sollen, wie es die chinesische Regierung nennt. Menschen, die ihr zufolge "infiziert sind mit ungesunden Gedanken". Gemeint sind Gedanken über uigurische Kultur, uigurische Sprache und über Religion. Menschen sind das, gegen die es keine Anklage gibt und kein Gerichtsverfahren, die sich also juristisch nichts haben zuschulden kommen lassen, die aber in der Tabelle oft mit dem Begriff "besorgniserregend" oder "nicht vertrauenswürdig" belegt werden - in ihnen sieht Peking letztlich potenzielle Terroristen.
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Die neue Kommissionspräsidentin will offenbar bereits an ihrem ersten Tag mit Peking über die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren sprechen. Auch US-Außenminister Mike Pompeo kritisiert China scharf.
Fall 1 zum Beispiel. Männlich. Interniert im Ausbildungszentrum Nr. 1, Einweisung am 23. Mai 2017. Grund der Einweisung: "1. Seine Ehefrau trug früher einen Schleier. 2. Hat vier Kinder mehr als erlaubt."
Fall 4. Männlich, Ausbildungszentrum Nr. 1, Einweisung am 11. März 2018. Grund der Einweisung: "Er ist eine besorgniserregende Person aus der Generation der in den 1980er-Jahren Geborenen."
Fall 560. Männlich. Grund der Einweisung: "Hat sich einen Bart wachsen lassen und trägt eine kurze Hose, Hinweise auf wahhabitische Gedanken."
Fall 568. "Besorgniserregende Person aus der Generation der in den 1990er-Jahren Geborenen. Er hat sein Restaurant während des Ramadans nicht normal weiter geöffnet." (Er hat also die muslimische Fastenzeit eingehalten.)
Fall 597. Frau, Ausbildungszentrum Nr. 2. Grund der Einweisung: "1. Sie hat einen Pass beantragt, ohne auszureisen. 2. Sie hat zwei Kinder zu viel geboren."
Fall 666. "Hat vier Mal Geschäftsbeziehungen gehabt zu sensiblen Staaten." (Für China sind das Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.)
Nochmals: Für all diese Punkte (langer Bart, kurze Hose, zu viele Kinder, Fasten im Ramadan, Pass beantragt, Geschäftsbeziehungen ins falsche Land) sind der Karakax-Liste zufolge Menschen für ein Jahr oder länger in Lager gesperrt worden. Hinweise, dass diese Lager existieren, gab es schon länger. Die Veröffentlichung der China Cables durch das Internationale Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ), zu dessen Mitgliedern mehrere SZ-Journalisten gehören, hatte vergangenen November endgültig bewiesen, dass die angeblichen "Schulen" in Wirklichkeit mit Stacheldraht und Wachtürmen gesicherte Lager sind: abgeriegelt, streng bewacht und auf politische Indoktrinierung ausgerichtet.
Die Karakax-Liste ist ein weiteres Dokument über das Lagersystem in Xinjiang, das offenbar direkt aus der chinesischen Verwaltung stammt. Im bürokratischen Jargon der KP Chinas liefert es einen Beleg für die wohl größte Internierung einer ethnisch-religiösen Minderheit der Gegenwart. Das Dokument bestätigt, was aus Interviews mit einstigen Insassen bekannt ist. Es zeigt erstmals im Detail und aus der Innensicht, wie das Fußvolk der Überwachungs- und Lagermaschinerie, die Kreis- und Gemeindebeamten, die Internierung an der Basis organisiert. Es belegt, aus welch banalen Gründen die Menschen im Lager landen und wie der Apparat der Partei versucht, mithilfe der jederzeit drohenden Internierung ganze Familien und letztlich ein ganzes Volk in Schach zu halten.
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Die Behörden löschen fast alle Hinweise auf die Recherchen zu Internierungslagern für Uiguren.
Der deutsche Chinawissenschaftler Adrian Zenz, der mit seinen Recherchen in den vergangenen Jahren wie kein anderer dazu beigetragen hat, die Existenz der Lager zu beweisen, hat die Karakax-Liste untersucht. Er konnte die Identität vieler der aufgezählten Internierten aus anderen Quellen überprüfen und hält die Liste für authentisch. Dies deckt sich mit der Einschätzung weiterer Experten, die SZ, NDR, WDR und Deutsche Welle konsultiert haben. Für Zenz ist die Karakax-Liste "der stärkste Beleg bislang, dass Peking in direkter Verletzung seiner eigenen Verfassung aktiv normale traditionelle religiöse Praktiken verfolgt und bestraft". Aus dem Dokument spreche die Angst der Partei vor jeder Art von Religiosität, eine Furcht, die in ihren Auswirkungen bisweilen "an mittelalterliche Hexenverfolgung" erinnere.
Für den Chinawissenschaftler Rian Thum von der Universität Nottingham ist vor allem eines erstaunlich: "Kein einziger der aufgelisteten Gründe, für die sie die Menschen in die Lager eingewiesen haben, hat irgendetwas mit Terrorismus zu tun", sagte er auf Anfrage. Thum beschäftigt sich als Forscher seit Langem mit dem Islam in China. Die Karakax-Liste, sagt Thum, untermauere die Sichtweise, wonach es sich bei der massenhaften Internierung der Uiguren um einen "enormen Akt kollektiver Bestrafung" handle. In Xinjiang war es im vergangenen Jahrzehnt zu einzelnen Gewaltakten und auch Terroranschlägen gekommen. "Aber eine Million Menschen in Internierungslager zu sperren, ist keine gesunde Antwort auf die Gewaltakte von ein paar Dutzend Menschen", sagt Thum. Tatsächlich seien die in der Liste genannten Internierungsgründe bisweilen "extrem in ihrer Banalität".
Vereinzelt finden sich in dem Dokument als Internierungsgrund Punkte wie "das Herunterladen von Videos extremistischen Inhalts" - wobei unklar bleibt, was genau die Videos "extremistisch" macht. Der überwältigende Teil aber geriet unter Verdacht wegen einfacher Dinge, die auch in China außerhalb von Xinjiang als normal gelten. "Hat Verwandte im Ausland", wird in der Liste mehrmals als Internierungsgrund genannt, oder: "Hat mit Personen im Ausland gesprochen." Ebenso verdächtig sind Uiguren, die ihre Heimat verlassen, um innerhalb Chinas zu reisen. Ein Taxifahrer auf der Liste etwa landete im Lager wegen seiner vielen Langstreckenfahrten. Andere wurden interniert, weil "ihr Denken schwer auszumachen" ist.
Es ist die Angst eines Staates mit totalitärer Kontrollsucht, die aus der Liste spricht. Ein Staat, in dem keine Unschulds-, sondern eine automatische Schuldvermutung gilt. Verdächtig werden kann man in einem solchen Staat allein durch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, der Generation der in den 1980er- oder 1990er-Jahren Geborenen etwa, ein Begriff, der im Dokument fast 100 Mal auftaucht, und zwar stets mit dem Zusatz "bu fangxin", was sich übersetzen lässt mit "besorgniserregend" oder "nicht vertrauenswürdig". 90 Prozent aller Internierten sind Männer, der überwiegende Teil davon ist zwischen 25 und 49 Jahre alt.
Die Karakax-Liste zeugt auch von Sippenhaft. Eine fromme Familie oder eine Ehefrau, die früher einmal einen Gesichtsschleier trug, gelten als Internierungsgründe. In einigen Fällen sind beide Eltern in staatlichem Gewahrsam - es gibt mittlerweile viele Berichte über Tausende uigurische Kinder, für die der Staat offenbar Internate gebaut hat, wo die Kinder die Liebe zur Partei und zu China gelehrt werden und wo "die Schule den Platz der Eltern einnimmt", wie es die Propaganda ausdrückt.
Die Empfehlung für Entlassung erhält in der Liste, wer "seine Fehler erkennt", "Reue zeigt" und sein "Denken reformiert" hat. Das wird rund drei Viertel der Personen in der Liste zugesprochen. Für den größten Teil der zu Entlassenden wird aber noch eine weitere Empfehlung ausgesprochen, die "Fortsetzung der Überwachung am Ort der Aufenthaltsregistrierung", durch das Nachbarschaftskomitee am Heimatort zum Beispiel. Manche sollen nach dem Lager zur Zwangsarbeit in eine Fabrik weitergereicht werden. Sprich: Die Kontrolle hat für die meisten auch nach der Lagerhaft kein Ende. Wenn die Mechanismen, die die Karakax-Liste aufzeige, weiter in Kraft blieben, urteilt Xinjiang-Forscher Zenz, dann gleiche jede Minderheitenforschung in der Region "zunehmend der Autopsie an einem Leichnam".