Bundesregierung:Deutschlands große Entsolidarisierung

  • Die aktuellen Probleme - von der Maaßen-Affäre bis zum Rechtsextremismus - zeigen, wie die Fliehkräfte in Politik und Gesellschaft immer größer werden.
  • Der fortwährende Streit zwischen CDU und CSU und der dauerhaft brüchige Zustand der Koalition sind mitverantwortlich für diese Entwicklung.
  • Genau diese Uneinigkeit der etablierten Parteien nützt den Rechtsnationalen.

Von Stefan Braun, Berlin

Mag sein, dass Angela Merkel und Horst Seehofer auf ein Ende der Debatte gehofft haben. Gut möglich, dass die zwei Parteichefs von CDU und CSU darauf setzten, dass andere Themen die Absurditäten um den scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen bald überlagern würden. Aber das, was diese Episode anrichtet, wird länger nachwirken und nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Und vieles spricht dafür, dass wenigstens Andrea Nahles, die SPD-Vorsitzende und Dritte im Bunde, das wenn auch sehr spät - vielleicht zu spät - gemerkt hat.

Die Affäre Maaßen ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die immer mehr um sich greift und viele Ebenen in der Gesellschaft erfasst hat: Es geht um die wachsende Entsolidarisierung - zwischen den Parteien in der Koalition; zwischen CDU und CSU in der so genannten Union, aber auch in der Gesellschaft insgesamt. Das Trennende und Spaltende hat Konjunktur, nicht das, was verbinden könnte. Eine gefährliche Entwicklung.

Daran schuld sind nicht mehr nur jene rechtsradikalen und rechtsextremen Kräfte, die auf Spaltung und Abgrenzung setzen. Ebenso verantwortlich sind mittlerweile jene, von denen man das Gegenteil erwarten sollte: Die Bundesregierung und die sie tragenden Noch-Volksparteien. Der fortwährende Streit zwischen CDU und CSU und der dauerhaft brüchige Zustand der Koalition stehen für eine Entwicklung, in der auch Politiker und Parteien auseinanderstreben statt zusammenzufinden. Die aktuelle Regierung lebt nicht vor, was sie dringend vorleben müsste; sie ist kein gutes Vorbild, sondern zelebriert eine Uneinigkeit, die sich ins Absurde ausweitet. Von Angela Merkel und Horst Seehofer abwärts fehlen Willen und Kraft, das Einigende endlich in den Mittelpunkt zu stellen.

Dabei hat der Fall Maaßen eine verstörende Wirkung. Es geht in dieser Affäre nicht nur um die Karriere eines Behördenleiters. Und es geht nicht um einen kleinen Ausrutscher. Maaßen hat - ob absichtlich oder nicht - mit seinem Handeln ein Herzstück des bundesdeutschen Selbstverständnisses berührt, indem er an der sensibelsten Stelle demonstrativ unsensibel agierte.

Wenn in diesem Land gut 70 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft wieder Rechtsextreme marschieren und dabei auch Gewalt zelebrieren, steht die für Herkunft und Zukunft der Republik wichtigste Frage im Raum: Ist die Gesellschaft wachsam genug, den Anfängen zu wehren? Dass in diesem Augenblick der Präsident des Verfassungsschutzes mit eigenen Verschwörungstheorien beschwichtigend auftrat, hat offen gelegt, dass er für die Aufgabe nicht das Format und das historische Verständnis mit gebracht hat.

Hinzu kommt, dass Maaßen nicht verabschiedet, sondern befördert wurde, und das in ein noch politischeres Amt, mit noch mehr Geld. Da ist keine Demut mehr, keine Bescheidenheit und keine Selbstbeschränkung; es gibt keine Reue und keine Entschuldigung. Es gibt taktische Manöver und sonst gar nichts.

Nicht geeignet, aber 2500 Euro mehr im Monat? Kein Bäcker, kein Handwerker, kein Manager wird das verstehen. Und niemand wird es als klugen Schachzug werten. So ein Akt spaltet, weil er wie kein Beispiel zuvor das gefährliche Klischee bestätigt, dass sich "die da in Berlin" vom gesunden Menschenverstand im Rest der Republik entkoppelt hätten. Solche Kompromisse waren immer schlecht. Aber in einer Zeit, in der die Gesellschaft durch Flüchtlingskrise und rechtsradikale Aggressionen herausgefordert wird, sind sie unverzeihlich. Sie untergraben das, was sie zu schützen vorgeben: So erhält man eine Demokratie nicht, sondern man schwächt sie - und das in Zeiten, in denen andere nur darauf warten, diese Demokratie anzugreifen.

Nicht besser wird das alles durch die Tatsache, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl an anderer Stelle schon viel länger leidet. Zwischen CDU und CSU, also in der so genannten Parteienfamilie der Union, bröckelt das Wir-gehören-zusammen-Verständnis seit Jahren. Und das begann keineswegs mit dem Streit um die Flüchtlingspolitik.

Die kühle Distanz, mit der Abstand wächst, Nähe bröckelt und eine Trennung näher rückt, geht auf ältere Ereignisse zurück, die vor allem in der CSU Frust und Enttäuschung auslösten. Mehr als einmal zeigte Angela Merkel in ihrer Amtszeit, dass sie bei Vorschlägen wie der Entfernungspauschale selbst einer bayerischen Schwester in Not nicht entgegenkommen würde. Da konnte der damalige Parteichef Erwin Huber noch so betteln - in Berlin stieß er auf taube Ohren. Merkel ist nie eine Mannschaftsspielerin gewesen, wenn es um die Frage ging, ob Logik oder Emotion, ob Mathematik oder Gemeinschaftsgefühl in einem bestimmten Moment wichtiger sein könnten.

Daran muss man sich erinnern, wenn man verstehen will, wie der große Riss zwischen der CSU und der Merkel-CDU entstehen konnte. Das alles gehört in München zum Erfahrungsschatz der vergangenen zehn Jahre und fand im Streit um die Flüchtlingspolitik seine explosionsartige Entladung.

Wie lässt sich das lösen? Man könnte von Finnland lernen

Seither lebt die Union den Menschen keine Union mehr vor, sondern zelebriert immer wieder von Neuem eine von Machtfragen und Überlebenstaktiken geprägte Dauerschlacht um die Meinungshoheit. Nichts erklärt besser, warum die Union keine Kraft mehr entfaltet. Dass Union und SPD mit dem Fall Maaßen und den nachfolgenden Kompromiss-Absurditäten in den Umfragen immer weiter abstürzen, überrascht nicht. Sie bieten genau das Schauspiel, das die AfD und ihre außerparlamentarischen Verbündeten herbeisehnen: Streit, Häme, Uneinigkeit, verbunden mit dem Eindruck, dass die Koalition ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen ist.

Und wie lässt sich das lösen? Schwer zu sagen, aber auf der Suche nach einer Antwort könnte ein Blick nach Finnland helfen.

Von Finnland lernen? Jetzt? Für viele in Deutschland mag das merkwürdig, ja absurd erscheinen. Das Land ist doch viel kleiner; es hat doch eine ganz andere Geschichte, eine andere Mentalität. Die Einwände kann man haben. Aber das ändert nichts daran, dass ausgerechnet dieses Land mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern in Kernfragen ein vortreffliches Vorbild sein kann.

Das liegt nicht so sehr an der Tatsache, dass das Land beinahe exakt gleich groß ist wie Deutschland und sein Pro-Kopf-Einkommen nahezu identisch. Es macht sich an der Frage fest, wie groß der Zusammenhalt ist und was Politik dafür tun kann. Wer das Land bereist, erlebt ziemlich schnell Faktoren, die ungewöhnlich sind und die Gesellschaft vergleichsweise zukunftsfähig machen.

Da ist das Vertrauen in den Staat; es ist ungebrochen und sehr groß; und da ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft, auch er ist außergewöhnlich. Und das nicht, weil sich das Land einkapseln würde. Es gehört vielmehr zu den engsten Verfechtern eines solidarischen Europa. Und es lebt enorm davon, dass es seine Produkte weltweit verkaufen kann. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der das Land Anfang der Woche besuchte, stellte fest, dass er so viel Vertrauen in den Staat und seine Institutionen schon lange nicht mehr irgendwo erlebt hat. Da klang auch Neid mit an.

Wer sich nun umhört, woran das liegt, erhält zwei Antworten: Die Menschen fühlen sich gut aufgehoben, und sie haben das Gefühl, dass man in Finnland Herausforderungen immer wieder gemeinsam angeht. Gut aufgehoben fühlen sie sich, weil die Polizei gut ausgestattet und bezahlt wird - und weil die meisten Ressourcen in gute Schulen und Universitäten gesteckt werden. Die Folge: Die Menschen fühlen sich sicher und sie wissen, dass ihre Kinder sehr gute Chancen im Leben bekommen. Zwei elementare Pflichten des Staates werden sehr gut erfüllt, das erklärt vieles. Auch die Tatsache, dass Polizisten und Lehrer mit Abstand zu den beliebtesten Berufen gehören.

Hinzu kommt: Die Menschen erleben immer wieder, dass sowohl im praktischen Alltag als auch bei ungewöhnlichen Herausforderungen alle Kräfte zusammengeworfen werden. Man kann das bei Schulprojekten beobachten, wo Kommunen, Unternehmen und Schulen ohne jede Berührungsangst kooperieren. Und man kann es dort studieren, wo Universitäten, Städte und große wie kleine Unternehmen sich vernetzen, weil sie alleine nie die Ressourcen für die Digitalisierung erwirtschaften könnten.

Der Pragmatismus führt alle zusammen. Und das Zauberwort, das dabei wirkt, heißt Solidarisierung. In Finnland sitzt sie tief; den Deutschen droht sie abhanden zu kommen.

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